Cicero 2.0? Bisher nur in der Beta-Version

Datum: 4. Dezember 2011
Redakteur:
Kategorie: Politik und Gesellschaft

Im Freud’schen Bild vom Menschen als „Prothesengott“ wäre das Internet wohl ein drittes Bein. Vielleicht werden wir damit einst schneller rennen und höher springen können. Noch bringt es uns aber häufig aus dem Tritt. Besonders bei politischen Onlinedebatten.

Denn das Internet ist kein römisches Forum mit einer Rostra. Es ähnelt vielmehr der Londoner Speaker’s Corner. Viele Redner sprechen gleichzeitig, aber nicht zueinander. Gefallen mir Thema oder Standpunkt nicht, gehe ich fünf Schritte weiter und wende mich einem anderen Redner zu. Rosinenpicking statt Agendasetting. So beteiligen sich mehr User an der Debatte „Beatles vs. Stones“, als an der Debatte „Kopfpauschale vs. Bürgerversicherung“. Das ist nicht schlimm, für die politische Willensbildung aber unerheblich. Mündete die Aussprache auf dem Forum in einer Abstimmung der Komitien, werde ich im Hyde Park bestenfalls unterhalten. Funktion der Debatte ist hier oft nur die Selbstdarstellung der Redner oder die Selbstvergewisserung der Zuhörer, kaum aber die Klärung einer Sachfrage.

Das Internet ist auch kein großer Plenarsaal. Es ähnelt eher einem großen Stammtisch. Wer einen beliebigen Thread öffnet, stellt fest: Trolling, Flaming, Spamming und Bullying sind derart verbreitet, dass wir uns extra diese lustigen Namen dafür ausdenken mussten. Will man aber auch virtuelle Debatten als fair geregelte Diskussionen etablieren, kommt man um größere Interventionen nicht umhin (ID-Check, Foren-Moderation, User-Sperrung) und verliert indes die oft angepriesenen Vorzüge Anonymität, Freiheit und Offenheit.

Im Internet wird viel gestritten, aber nur selten debattiert. Hit-and-run-Postings verstopfen die Foren, und die Beiträge von „peter1987“ werden ungelesen weggescrollt, der schreibt ja eh nur Plunder. Ohne Wertschätzung auch für fremde Meinungen wird aber das Debattenprinzip von Rede und Gegenrede ausgehöhlt. Debattenfortschritt und die Überzeugung der Opponenten werden unmöglich.

Mit Pierre Bourdieu gesprochen: Im Feld der virtuellen Debatte stehen die Akteure in anderen Relationen zu-einander, spielen nach anderen Regeln und streiten um andere Ressourcen als im Feld ihres physischen Ebenbilds. Entsprechend unterscheidet sich die soziale Praxis der Debatten. Ursprung dieser Unterschiede ist ein spezieller Habitus der Teilnehmer: Von der Rostra abgetreten, verwandelt sich Ciceros orator perfectus online schnell in einen clamorator imperfectus.

Das mag vielen als Fortschritt erscheinen. Für alle anderen bleibt Partizipation ohne Willensbildung müßig, Rede ohne Gehör nur Bambule. Sie brauchen das analoge Forum, nicht das digitale. Debatte im Internet ist schneller, leichter, verführerischer. Besser ist sie nicht.

Dieser Artikel ist erschienen im aktuellen Newsletter des Verbands der Debattierclubs an Hochschulen (VDCH) “Debattenkultur in Deutschland” über das Thema “Debatten im Netz”. Der komplette Newsletter kann auf der Internetseite des VDCH heruntergeladen werden. Unser Autor Daniel Sommer vertritt hier die Contra-Meinung zum Thema. Die Pro-Seite verteidigt Gregor Landwehr mit seinem Beitrag „Das Internet ist der ideale Ort für Debatten!“.

Daniel Sommer debattiert seit 2003 im Debating Club Heidelberg. Er war u.a. Bester Einzelredner der Deutschen Debattiermeisterschaft 2005 und Deutscher Vizemeister 2008 sowie Chefjuror der Deutschen Debattiermeisterschaften 2007 und 2009.

Print Friendly, PDF & Email
Schlagworte:

Folge der Achten Minute





RSS Feed Artikel, RSS Feed Kommentare
Hilfe zur Mobilversion

Credits

Powered by WordPress.