Danke Willy für diesen Artikel.
Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass die SR die ER mit dem prinzipielleren Argument schlägt. Vorallem deshalb, weil der höheren Zweck den die ER mit ihrem “Opfer” erreichen will, sehr unsicher ist. Also wie Menschen wirklich auf das Leid reagieren ist sehr ungewiss und es sind einige Zwischenschritte nötig um darauf aufbauend eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zu erreichen.
Die Linie der SR ist eindeutig und mit weniger ” Unwägbarkeiten” versehen. Daher im Ergbnis warscheinlich überwuegender. Ob es dem betreffenden BP-Juror missfällt, dass Tiere gequält werden können, ist völlig irrelevant.
Meines Erachtens lebt BP gerade davon, dass die zweite Hälfte sich ausführlich(er) mit Prinzipien beschäftigen kann. Gefühlt wird das international deutlich mehr honoriert.
Ich denke nicht, dass CAs durch die Eingrenzung des Themas eine solche Strategie unterbinden können.
Im konkreten Fall würde mein Gefühl auch eher zur zweiten Regierung tendieren. Die von der Motion intendierte Streitfrage ist Kunstfreiheit vs Tierrechte. Indem wir Tierrechte negieren, wird die Abwägung danach ziemlich einfach, schließt aber insbesondere alle(!) Kunst ein.
Die erste Regierung hat da deutlich mehr Nebenbedingungen: Ich kann schließlich auch Kunst mit Tierquälerei machen, ohne auf Tierrechte aufmerksam zu machen, deswegen engt die Definition der ER “Kunst” dann doch ziemlich ein und erfordert zusätzlich eine sehr starke, allgemeine Annahme (von der der Weg zur kompletten Rechtlosigkeit nicht mehr so weit ist): Sie spricht Tieren Individualität ab. Niemand käme auf die Idee eine Kunstaktion wie “Flüchtlinge fressen” (Zentrum für polit. Schönheit) oder um im Rahmen der Motion zu bleiben: Wir lassen aus gutem Grund keine afrikanischen Kinder als Kunstaktion auf dem Marktplatz verhungern um auf das Hungerproblem in Afrika aufmerksam zu machen. Und das aus gutem Grund. Zusätzlich fangen sie sich eine ziemlich blöde “Ist das Kunst oder kann das Weg”-Diskussion über die Definition von Kunst ein. Insgesamt scheint mir die Linie einfach in sehr viele kleine, in verschiedene Richtungen gehende Strittigkeiten zu zerfallen, wo ich der großen, eindeutigen Linie der SR den Vorzug geben würde.
Im Allgemeinen bin ich aber doch bei Willy: Spezifischer an der Streitfrage zu sein, ist eher ein Vorteil. Wenn es die erste Regierung schaffen würde (ohne diese imho unpassende utilitaristische Abwägung, in welcher Welt mehr Tierkadaver liegen), glaubhaft zu machen, warum gerade Kunst in ihrer vollen Breite quasi uneingeschränkten Zugriff auf Tiere hat (was mir sehr schwer erscheint, ohne Tierrechte komplett zu negieren), dann würde das die SR schlagen.
Ich möchte in meiner Antwort zuerst auf die konkrete Debatte eingehen, dann etwas zu dem allgemeinen Problem schreiben.
Ich glaube, dass es für die von dir geschilderte konkrete Debatte keine universelle Lösung gibt, weil m.E. sowohl ER als auch SR Fehler in ihrer Argumentation machen, bei denen man im Einzelfall schauen muss, welcher schwerer wiegt und gröber gemacht wurde. So wie du das Beispiel konstruierst (bzw. so wie ich es verstehe), haben beide Teams nicht sauber bei der Begründung ihrer Prämissen gearbeitet. Die ER geht davon aus, dass Tierrechte grundsätzlich schützenswert sind und die Aufhebung dieses Grundsatzes im Rahmen der Kunst zulässig ist, um diesen Wert in der Gesellschaft voranzubringen und damit ultimativ weniger Tierquälerei zu ermöglichen. Das Thema gibt diesen Wert und diese Zielvorstellung aber nicht (zwingend) vor. ER hätte diesen Wert daher m.E. begründen müssen (wenn sie das getan hat, kann sie durchaus vor SR sein, dazu sogleich).
SR nutzt genau diese Wertoffenheit des Themas und stellt die Prämisse der ER in Frage oder widerlegt sie sogar überzeugend. Wenn ER es verpasst hat, diese Prämisse zu begründen, fände ich es einen guten Grund, SR vor ER zu sehen (wobei man sich hier natürlich die Frage stellen müsste, ob es ein (un)zulässiger Dolch wäre, aber das klammern wir hier ja gerade aus 🙂 ).
SR hätte aber m.E. darüber hinaus zeigen müssen, warum ihr Wertefundament und ihre Prämissen *besser* sind als die bereits von der ER eingebrachten Grundannahmen, zu denen sie sich diametral in Widerspruch gesetzt hat (insbesondere falls ER diese Prämissen doch begründet hat). Nur indem sie das unterlässt, kommt es zu dem von dir geschilderten Problem, dass 2 Wertesysteme “gleichwertig” nebeneinander stehen und man als Juror keine Abwägungskriterien anhand der Debattierleistung in der Debatte hat. Da die SR diejenige ist, die sich in Widerspruch zur ER setzt und (unter den beiden) auch die einzige ist, die Gelegenheit gehabt hätte, diesen zu begründen, ist es m.E. ihr zur Last zu legen, wenn sie dies nicht tut. In diesem Fall gewinnt dann im Zweifel ER.
Abstrakter auf das Strittigkeitsgefälle bezogen glaube ich schon, dass es hier einen Unterschied zwischen der Jurierung von OPD und BPS gibt, der jeweils im absoluten und relativen Jurieransatz begründet ist. Ich glaube aber auch, dass sich der Unterschied nur im Begründungsweg, nicht aber im Ergebnis auswirkt.
Ich finde es schwierig, abstrakt in einer relativen BPS Jurierung den absoluten Maßstab der Verfehlung des Strittigkeitsgefälles anzuwenden, da er etwas in die Debatte hineinträgt, das dort im Zweifel nicht Gegenstand war (deswegen tritt das Problem ja überhaupt auf: Die Teams haben in aller Regel nicht über diese Gewichtung gesprochen, sondern sie nur implizit vorgenommen). Ich finde es aber plausibel, aus der Logik von BPS heraus den später sprechenden Teams aufzugeben, sich mit in der Debatte bereits eingebrachten Prämissen argumentativ auseinanderzusetzen, insbesondere dann, wenn sie sich in Widerspruch zu diesen setzen. Dies ist ein bisschen aus der Zuschauerperspektive gedacht: Wenn ER ein überzeugendes Argument und bestimmte Grundannahmen in die Debatte einbringt, dann wird ein neutraler Zuhörer zunächst denken: “Ja, das ist überzeugend und klingt richtig.” Wenn nun ein späteres Team eine andere, ggf. gegensätzliche Grundannahme einbringt, wird sich dieser neutrale Zuhörer denken: “Ja, das ist auch überzeugend, aber warum ist es wichtiger und richtiger als das, was ER gesagt hat?”
Die zentrale Frage ist damit m.E., welchem Team es zur Last gelegt wird, wenn es in der Debatte keine klare argumentative Entscheidung darüber gegeben hat, welcher Grundannahme der Vorzug zu geben ist. Denn ich glaube, dass es nur in dieser Konstellation dazu kommt, dass man die Teams nicht nach ihrer Überzeugungskraft in der konkreten Debatte von 1-4 ranken kann. Es geht für mich dagegen weniger um den von dir, Willy, aufgezeigten Konflikt zwischen konkreter Argumentation und abstrakter Werteargumentation an sich.
Diese Frage nach der Verteilung der Begründungslast kann man bestimmt unterschiedlich beantworten. Ich persönlich würde im Regelfall aber (wie oben angedeutet) dazu tendieren, sie dem späteren Team aufzuerlegen, weil ich glaube, dass dies am Ende der Debatte als Sport am besten gerecht wird. Natürlich hat damit das spätere Team einen gewissen Nachteil, weil es tendenziell eine höhere Begründungslast hat. Dies finde ich aber gerechtfertigt, weil es gleichzeitig ja mehr Zeit hat, sich vorzubereiten und es zudem in seinem freien Ermessen steht, ob es sich auf diesen erhöhten Begründungsaufwand einlassen möchte oder ob es die Grundannahmen der ER (bzw. allgemein des früher sprechenden Teams) annimmt bzw. genau die gesetzte Debatte debattiert ohne das “Strittigkeitsgefälle” zu verschieben. Es scheint mir jedenfalls fairer, als dem früheren Team nicht nur aufzugeben, zu begründen, warum die eigene Linie richtig und gut ist, sondern auch noch (präventiv) zu begründen, warum sie jede andere potentiell dagegen vorzubringende Linie schlägt.
Natürlich gibt es zu jeder Regel eine Ausnahme, gerade in BPS. Wenn das zuerst sprechende Team eine komplett abwegige Linie fährt, um wie du, Willy sagst, die gegnerischen Teams auf dem falschen Fuß zu erwischen, bedarf es unabhängig von der Grundregel einer Korrektur in der Jurierung. Eben dafür haben wir aber auch Sonderregeln, wie z.B. dass die EO die Debatte auf das Thema zurückführen oder die SR ggf. dolchen darf und der nicht themenkonforme Antrag zu Lasten der ER zu werten ist. Gleichzeitig wird in einem solchen (Sonder-)Fall auch das frühere Team schon einen Begründungsaufwand haben, warum die eigene Linie legitim ist, weil der neutrale Zuhörer, der das Thema zu Beginn der Debatte vorgelesen bekommen hat, sich erstmal denkt: “Häh? Was hat das damit zu tun? Warum sollte ich davon überzeugt sein?”
Ich würde mich daher bei der Jurierung einer BPS Debatte weniger fragen, ob die Linie eines Teams das Strittigkeitsgefälle der Debatte verfehlt hat, sondern ob es im Rahmen der konkreten Debatte aktiv zeigen konnte, dass es die überzeugendere Linie in Bezug auf die durch das Thema gestellte Frage ist. Das kann dann sowohl die konkretere, kleinteilige Argumentation an einem spezifischen Beispiel sein als auch die große Wertefrage.
Wenn alle Teams es unterlassen, diese Gewichtung zu begründen, würde ich es regelmäßig den späteren Teams zur Last legen. Zur Sicherung der sportlichen Fairness würde ich (gleichsam als Sonderregel) eine Missbrauchsgrenze ziehen, die spätestens bei der völligen Verfehlung des Themas liegt und die entsprechend durch die anderen Teams eingefordert werden kann. Wenn ein Thema einen spezifischen Konflikt stellt und ein Team nur den abstrakten Konflikt bearbeitet, wird es daher aus meiner Sicht einen sehr hohen Begründungsaufwand haben, um zu überzeugen, warum es die gestellte Frage besser und überzeugender beantwortet als die anderen Teams. Wenn es diese Herausforderung aber meistert, kann es die Debatte damit m.E. durchaus gewinnen.
Langer Rede, kurzer Sinn: Wie du auch schreibst: Es gewinnt das Team, das am meisten überzeugt. 🙂
Wenn das Thema lautet “DHG, Tierquälerei in der Kunst ist legitim.” dann ist die Prämisse, dass Tierquälerei schlecht ist, im Thema vorgegeben. Sonst würde es keinen Sinn machen, eine Ausnahme zu debattieren. Mir wäre es lieber, an das Thema ein “um Tierrechte zu stärken” oder ähnliches anzuhängen, allgemein ist die Richtung der Debatte mMn aber eindeutig.
Wenn man die Argumentation der SR akzeptiert, zwingt man alle ER in solchen Themen, ausführlich die Prämissen und Prinzipien zu begründen. Wenn die schließende Hälfte aber nicht alles anzweifelt, sind das einige verschenkte Minuten Zeit. Wenn die ER es nicht macht, kann die schließende Hälfte die erste Hälfte mit ihrer Argumentation irrelevant machen.
Da ich nicht in jeder Debatte über Wahlsysteme/Wahlzwang/Wahlvorteile/Volksabstimmungen etc. ausführlich den Sinn von Demokratie erklären will, sollten wir schließende Hälften dafür bestrafen, wenn sich ihre Argumentation fundamental gegen die Prämissen der vorherigen Debatte stellen.
Vielen Dank, Willy, für diesen Artikel über ein Phänomen, das ich als Redner und als Juror auch immer wieder beobachtet habe und für sehr relevant halte. Ich stimme Deiner Beschreibung völlig zu, dass sich die Problematik für Redner vor allem als Frage des Timings darstellt – der Beleg der „noch strittigeren“ These ist in der Regel noch zeitaufwändiger als der Beleg der eigentlichen These und wird in 7 Minuten nur von sehr guten Debattanten gemeistert.
Eine Ergänzung noch von mir: Häufig stellt das „Strittigkeitsgefälle“ vor allem für wenig erfahrene Teams in erster Linie eine „Strittigkeitsfalle“ dar, in die blindlings hineingetappt wird. Vor lauter Freude darüber, noch ein weiteres Argument gefunden zu haben, wird das Gefälle gar nicht wahrgenommen. Der zusätzlich benötigte Begründungsaufwand wird nicht erkannt, das „noch strittigere“ Argument wird einfach als weiterer Beleg für die eigene Position in die Argumentation eingebaut. Entweder verkümmert es, weil ihm nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet wurde, oder es schadet der vertretenen Position sogar, weil die Ablehnung der „noch strittigeren“ These dann auch die Ablehnung der eigentlichen Streitfrage erleichtert. Es sind diese Debatten, in denen das Strittigkeitsgefälle in der Jurierung dann häufig zu schlechten Bewertungen führt.
Dagegen kann aber ein Artikel wie der von Willy helfen, indem er ein Bewusstsein für das Problem schafft und auch Anfänger dafür sensibilisiert. Nur wer das Gefälle erkennt, kann seine Rede gezielt darauf ausrichten – oder das „noch strittigere“ Argument im Zweifel auch einfach wieder streichen.
Findet man sich dennoch einmal in der Strittigkeitsfalle wieder, hilft manchmal die Anordnung der Argumente als gleichrangige Argumente: weil a -> X; weil b -> X; weil c -> X. Wird a als „noch strittigere“ Position in der Debatte nicht anerkannt, bleiben immer noch b und c, um die Schlussfolgerung X zu rechtfertigen. Anders bei der Anordnung als nachrangige Argumente: Weil a -> b; weil b -> c; weil c -> X. Wird hier a als „noch strittigeres“ Argument erfolgreich entkräftet, können auch b und c die Schlussfolgerung X nicht mehr tragen.
Ich halte die fiktive Jurierung dieser Debatte für äußerst schwer, da z.B. die Frage ob Tierquälerei als schlecht angesehen wird, ohne die Betrachtung der ganzen Debatte also auch der OPP kaum beantwortet werden kann. Ich denke dass Strittigkeitsgefälle (wobei ich bei BP eher von relevantem Debattenbeitrag sprechen würde) kann nicht nur anhand einer Seite geklärt werden. Ich bin auch kein Freund davon, Teile einer Debatte (also hier die R) separat voneinander zu betrachten. Ich erwarte bei einer holistischen Betrachtung eine ganzheitliche Sicht auf die Debatte und das beinhaltet auch die OPP und andere Dinge. Wenn wir hier theoretisch die Debatte in kleine Teile zerlegen leisten wir der mE eh schon geschwächten holistischen Betrachtungsweise einen Bärendienst.
Danke Willy für diesen Artikel.
Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass die SR die ER mit dem prinzipielleren Argument schlägt. Vorallem deshalb, weil der höheren Zweck den die ER mit ihrem “Opfer” erreichen will, sehr unsicher ist. Also wie Menschen wirklich auf das Leid reagieren ist sehr ungewiss und es sind einige Zwischenschritte nötig um darauf aufbauend eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zu erreichen.
Die Linie der SR ist eindeutig und mit weniger ” Unwägbarkeiten” versehen. Daher im Ergbnis warscheinlich überwuegender. Ob es dem betreffenden BP-Juror missfällt, dass Tiere gequält werden können, ist völlig irrelevant.
Meines Erachtens lebt BP gerade davon, dass die zweite Hälfte sich ausführlich(er) mit Prinzipien beschäftigen kann. Gefühlt wird das international deutlich mehr honoriert.
Ich denke nicht, dass CAs durch die Eingrenzung des Themas eine solche Strategie unterbinden können.
Im konkreten Fall würde mein Gefühl auch eher zur zweiten Regierung tendieren. Die von der Motion intendierte Streitfrage ist Kunstfreiheit vs Tierrechte. Indem wir Tierrechte negieren, wird die Abwägung danach ziemlich einfach, schließt aber insbesondere alle(!) Kunst ein.
Die erste Regierung hat da deutlich mehr Nebenbedingungen: Ich kann schließlich auch Kunst mit Tierquälerei machen, ohne auf Tierrechte aufmerksam zu machen, deswegen engt die Definition der ER “Kunst” dann doch ziemlich ein und erfordert zusätzlich eine sehr starke, allgemeine Annahme (von der der Weg zur kompletten Rechtlosigkeit nicht mehr so weit ist): Sie spricht Tieren Individualität ab. Niemand käme auf die Idee eine Kunstaktion wie “Flüchtlinge fressen” (Zentrum für polit. Schönheit) oder um im Rahmen der Motion zu bleiben: Wir lassen aus gutem Grund keine afrikanischen Kinder als Kunstaktion auf dem Marktplatz verhungern um auf das Hungerproblem in Afrika aufmerksam zu machen. Und das aus gutem Grund. Zusätzlich fangen sie sich eine ziemlich blöde “Ist das Kunst oder kann das Weg”-Diskussion über die Definition von Kunst ein. Insgesamt scheint mir die Linie einfach in sehr viele kleine, in verschiedene Richtungen gehende Strittigkeiten zu zerfallen, wo ich der großen, eindeutigen Linie der SR den Vorzug geben würde.
Im Allgemeinen bin ich aber doch bei Willy: Spezifischer an der Streitfrage zu sein, ist eher ein Vorteil. Wenn es die erste Regierung schaffen würde (ohne diese imho unpassende utilitaristische Abwägung, in welcher Welt mehr Tierkadaver liegen), glaubhaft zu machen, warum gerade Kunst in ihrer vollen Breite quasi uneingeschränkten Zugriff auf Tiere hat (was mir sehr schwer erscheint, ohne Tierrechte komplett zu negieren), dann würde das die SR schlagen.
Ein sehr cooler Artikel, danke Willy 🙂
Ich möchte in meiner Antwort zuerst auf die konkrete Debatte eingehen, dann etwas zu dem allgemeinen Problem schreiben.
Ich glaube, dass es für die von dir geschilderte konkrete Debatte keine universelle Lösung gibt, weil m.E. sowohl ER als auch SR Fehler in ihrer Argumentation machen, bei denen man im Einzelfall schauen muss, welcher schwerer wiegt und gröber gemacht wurde. So wie du das Beispiel konstruierst (bzw. so wie ich es verstehe), haben beide Teams nicht sauber bei der Begründung ihrer Prämissen gearbeitet. Die ER geht davon aus, dass Tierrechte grundsätzlich schützenswert sind und die Aufhebung dieses Grundsatzes im Rahmen der Kunst zulässig ist, um diesen Wert in der Gesellschaft voranzubringen und damit ultimativ weniger Tierquälerei zu ermöglichen. Das Thema gibt diesen Wert und diese Zielvorstellung aber nicht (zwingend) vor. ER hätte diesen Wert daher m.E. begründen müssen (wenn sie das getan hat, kann sie durchaus vor SR sein, dazu sogleich).
SR nutzt genau diese Wertoffenheit des Themas und stellt die Prämisse der ER in Frage oder widerlegt sie sogar überzeugend. Wenn ER es verpasst hat, diese Prämisse zu begründen, fände ich es einen guten Grund, SR vor ER zu sehen (wobei man sich hier natürlich die Frage stellen müsste, ob es ein (un)zulässiger Dolch wäre, aber das klammern wir hier ja gerade aus 🙂 ).
SR hätte aber m.E. darüber hinaus zeigen müssen, warum ihr Wertefundament und ihre Prämissen *besser* sind als die bereits von der ER eingebrachten Grundannahmen, zu denen sie sich diametral in Widerspruch gesetzt hat (insbesondere falls ER diese Prämissen doch begründet hat). Nur indem sie das unterlässt, kommt es zu dem von dir geschilderten Problem, dass 2 Wertesysteme “gleichwertig” nebeneinander stehen und man als Juror keine Abwägungskriterien anhand der Debattierleistung in der Debatte hat. Da die SR diejenige ist, die sich in Widerspruch zur ER setzt und (unter den beiden) auch die einzige ist, die Gelegenheit gehabt hätte, diesen zu begründen, ist es m.E. ihr zur Last zu legen, wenn sie dies nicht tut. In diesem Fall gewinnt dann im Zweifel ER.
Abstrakter auf das Strittigkeitsgefälle bezogen glaube ich schon, dass es hier einen Unterschied zwischen der Jurierung von OPD und BPS gibt, der jeweils im absoluten und relativen Jurieransatz begründet ist. Ich glaube aber auch, dass sich der Unterschied nur im Begründungsweg, nicht aber im Ergebnis auswirkt.
Ich finde es schwierig, abstrakt in einer relativen BPS Jurierung den absoluten Maßstab der Verfehlung des Strittigkeitsgefälles anzuwenden, da er etwas in die Debatte hineinträgt, das dort im Zweifel nicht Gegenstand war (deswegen tritt das Problem ja überhaupt auf: Die Teams haben in aller Regel nicht über diese Gewichtung gesprochen, sondern sie nur implizit vorgenommen). Ich finde es aber plausibel, aus der Logik von BPS heraus den später sprechenden Teams aufzugeben, sich mit in der Debatte bereits eingebrachten Prämissen argumentativ auseinanderzusetzen, insbesondere dann, wenn sie sich in Widerspruch zu diesen setzen. Dies ist ein bisschen aus der Zuschauerperspektive gedacht: Wenn ER ein überzeugendes Argument und bestimmte Grundannahmen in die Debatte einbringt, dann wird ein neutraler Zuhörer zunächst denken: “Ja, das ist überzeugend und klingt richtig.” Wenn nun ein späteres Team eine andere, ggf. gegensätzliche Grundannahme einbringt, wird sich dieser neutrale Zuhörer denken: “Ja, das ist auch überzeugend, aber warum ist es wichtiger und richtiger als das, was ER gesagt hat?”
Die zentrale Frage ist damit m.E., welchem Team es zur Last gelegt wird, wenn es in der Debatte keine klare argumentative Entscheidung darüber gegeben hat, welcher Grundannahme der Vorzug zu geben ist. Denn ich glaube, dass es nur in dieser Konstellation dazu kommt, dass man die Teams nicht nach ihrer Überzeugungskraft in der konkreten Debatte von 1-4 ranken kann. Es geht für mich dagegen weniger um den von dir, Willy, aufgezeigten Konflikt zwischen konkreter Argumentation und abstrakter Werteargumentation an sich.
Diese Frage nach der Verteilung der Begründungslast kann man bestimmt unterschiedlich beantworten. Ich persönlich würde im Regelfall aber (wie oben angedeutet) dazu tendieren, sie dem späteren Team aufzuerlegen, weil ich glaube, dass dies am Ende der Debatte als Sport am besten gerecht wird. Natürlich hat damit das spätere Team einen gewissen Nachteil, weil es tendenziell eine höhere Begründungslast hat. Dies finde ich aber gerechtfertigt, weil es gleichzeitig ja mehr Zeit hat, sich vorzubereiten und es zudem in seinem freien Ermessen steht, ob es sich auf diesen erhöhten Begründungsaufwand einlassen möchte oder ob es die Grundannahmen der ER (bzw. allgemein des früher sprechenden Teams) annimmt bzw. genau die gesetzte Debatte debattiert ohne das “Strittigkeitsgefälle” zu verschieben. Es scheint mir jedenfalls fairer, als dem früheren Team nicht nur aufzugeben, zu begründen, warum die eigene Linie richtig und gut ist, sondern auch noch (präventiv) zu begründen, warum sie jede andere potentiell dagegen vorzubringende Linie schlägt.
Natürlich gibt es zu jeder Regel eine Ausnahme, gerade in BPS. Wenn das zuerst sprechende Team eine komplett abwegige Linie fährt, um wie du, Willy sagst, die gegnerischen Teams auf dem falschen Fuß zu erwischen, bedarf es unabhängig von der Grundregel einer Korrektur in der Jurierung. Eben dafür haben wir aber auch Sonderregeln, wie z.B. dass die EO die Debatte auf das Thema zurückführen oder die SR ggf. dolchen darf und der nicht themenkonforme Antrag zu Lasten der ER zu werten ist. Gleichzeitig wird in einem solchen (Sonder-)Fall auch das frühere Team schon einen Begründungsaufwand haben, warum die eigene Linie legitim ist, weil der neutrale Zuhörer, der das Thema zu Beginn der Debatte vorgelesen bekommen hat, sich erstmal denkt: “Häh? Was hat das damit zu tun? Warum sollte ich davon überzeugt sein?”
Ich würde mich daher bei der Jurierung einer BPS Debatte weniger fragen, ob die Linie eines Teams das Strittigkeitsgefälle der Debatte verfehlt hat, sondern ob es im Rahmen der konkreten Debatte aktiv zeigen konnte, dass es die überzeugendere Linie in Bezug auf die durch das Thema gestellte Frage ist. Das kann dann sowohl die konkretere, kleinteilige Argumentation an einem spezifischen Beispiel sein als auch die große Wertefrage.
Wenn alle Teams es unterlassen, diese Gewichtung zu begründen, würde ich es regelmäßig den späteren Teams zur Last legen. Zur Sicherung der sportlichen Fairness würde ich (gleichsam als Sonderregel) eine Missbrauchsgrenze ziehen, die spätestens bei der völligen Verfehlung des Themas liegt und die entsprechend durch die anderen Teams eingefordert werden kann. Wenn ein Thema einen spezifischen Konflikt stellt und ein Team nur den abstrakten Konflikt bearbeitet, wird es daher aus meiner Sicht einen sehr hohen Begründungsaufwand haben, um zu überzeugen, warum es die gestellte Frage besser und überzeugender beantwortet als die anderen Teams. Wenn es diese Herausforderung aber meistert, kann es die Debatte damit m.E. durchaus gewinnen.
Langer Rede, kurzer Sinn: Wie du auch schreibst: Es gewinnt das Team, das am meisten überzeugt. 🙂
Wenn das Thema lautet “DHG, Tierquälerei in der Kunst ist legitim.” dann ist die Prämisse, dass Tierquälerei schlecht ist, im Thema vorgegeben. Sonst würde es keinen Sinn machen, eine Ausnahme zu debattieren. Mir wäre es lieber, an das Thema ein “um Tierrechte zu stärken” oder ähnliches anzuhängen, allgemein ist die Richtung der Debatte mMn aber eindeutig.
Wenn man die Argumentation der SR akzeptiert, zwingt man alle ER in solchen Themen, ausführlich die Prämissen und Prinzipien zu begründen. Wenn die schließende Hälfte aber nicht alles anzweifelt, sind das einige verschenkte Minuten Zeit. Wenn die ER es nicht macht, kann die schließende Hälfte die erste Hälfte mit ihrer Argumentation irrelevant machen.
Da ich nicht in jeder Debatte über Wahlsysteme/Wahlzwang/Wahlvorteile/Volksabstimmungen etc. ausführlich den Sinn von Demokratie erklären will, sollten wir schließende Hälften dafür bestrafen, wenn sich ihre Argumentation fundamental gegen die Prämissen der vorherigen Debatte stellen.
Vielen Dank, Willy, für diesen Artikel über ein Phänomen, das ich als Redner und als Juror auch immer wieder beobachtet habe und für sehr relevant halte. Ich stimme Deiner Beschreibung völlig zu, dass sich die Problematik für Redner vor allem als Frage des Timings darstellt – der Beleg der „noch strittigeren“ These ist in der Regel noch zeitaufwändiger als der Beleg der eigentlichen These und wird in 7 Minuten nur von sehr guten Debattanten gemeistert.
Eine Ergänzung noch von mir: Häufig stellt das „Strittigkeitsgefälle“ vor allem für wenig erfahrene Teams in erster Linie eine „Strittigkeitsfalle“ dar, in die blindlings hineingetappt wird. Vor lauter Freude darüber, noch ein weiteres Argument gefunden zu haben, wird das Gefälle gar nicht wahrgenommen. Der zusätzlich benötigte Begründungsaufwand wird nicht erkannt, das „noch strittigere“ Argument wird einfach als weiterer Beleg für die eigene Position in die Argumentation eingebaut. Entweder verkümmert es, weil ihm nicht ausreichend Aufmerksamkeit gewidmet wurde, oder es schadet der vertretenen Position sogar, weil die Ablehnung der „noch strittigeren“ These dann auch die Ablehnung der eigentlichen Streitfrage erleichtert. Es sind diese Debatten, in denen das Strittigkeitsgefälle in der Jurierung dann häufig zu schlechten Bewertungen führt.
Dagegen kann aber ein Artikel wie der von Willy helfen, indem er ein Bewusstsein für das Problem schafft und auch Anfänger dafür sensibilisiert. Nur wer das Gefälle erkennt, kann seine Rede gezielt darauf ausrichten – oder das „noch strittigere“ Argument im Zweifel auch einfach wieder streichen.
Findet man sich dennoch einmal in der Strittigkeitsfalle wieder, hilft manchmal die Anordnung der Argumente als gleichrangige Argumente: weil a -> X; weil b -> X; weil c -> X. Wird a als „noch strittigere“ Position in der Debatte nicht anerkannt, bleiben immer noch b und c, um die Schlussfolgerung X zu rechtfertigen. Anders bei der Anordnung als nachrangige Argumente: Weil a -> b; weil b -> c; weil c -> X. Wird hier a als „noch strittigeres“ Argument erfolgreich entkräftet, können auch b und c die Schlussfolgerung X nicht mehr tragen.
Grüße
DS
Ich halte die fiktive Jurierung dieser Debatte für äußerst schwer, da z.B. die Frage ob Tierquälerei als schlecht angesehen wird, ohne die Betrachtung der ganzen Debatte also auch der OPP kaum beantwortet werden kann. Ich denke dass Strittigkeitsgefälle (wobei ich bei BP eher von relevantem Debattenbeitrag sprechen würde) kann nicht nur anhand einer Seite geklärt werden. Ich bin auch kein Freund davon, Teile einer Debatte (also hier die R) separat voneinander zu betrachten. Ich erwarte bei einer holistischen Betrachtung eine ganzheitliche Sicht auf die Debatte und das beinhaltet auch die OPP und andere Dinge. Wenn wir hier theoretisch die Debatte in kleine Teile zerlegen leisten wir der mE eh schon geschwächten holistischen Betrachtungsweise einen Bärendienst.