“Das Wasser, das wir Atmen” von Dessislava Kirova

Datum: Apr 3rd, 2013
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Category: Menschen, Mittwochs-Feature, VDCH

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6 Kommentare zu ““Das Wasser, das wir Atmen” von Dessislava Kirova”

  1. Teresa W. (Münster) says:

    Danke Dessi, für diesen mitreissenden und erhellenden Beitrag! Ich selbst habe die Rede von Foster Wallace vor längerer Zeit gelesen; wie bei so vielen Dingen ist sie aber wieder in den Hintergrund meines aktiven Gedankenschatzes gerutscht und ich hätte die Verknüpfung, die du vollzogen hast, wohl nicht von selbst gezogen.

    Sehr interessant finde ich deine Beobachtung, die du in Bezug auf dein eigenes Mitgefühl beschreibst, wenn du über das historische Kollektiv von Frauen denkst, die sich nicht mit 20, sondern 100 % Sexismus konfrontiert sahen. Dasselbe Beispiel bringst du, finde ich, schon vorher, wenn du über den reflektierten Debattierer berichtest, der es nicht versteht in ein Kollektiv gesteckt zu werden bzw. reflexartig das Gefühl hat dieses ganze Kollektiv verteidigen zu müssen.

    Ich persönlich empfinde ebenso, dass sich die Fronten in dieser Debatte zunehmend verhärten! Es geht nicht mehr um einzelne Fälle, sondern gleich um das große Ganze. Es findet eine Vermischung der Betroffenengruppe statt, wenn es passt und eine Individualisierung, ebenfalls dann, wenn es passt. Was meine ich damit?

    Ich meine genau den beschriebenen Fall: ein Mann wird in einem Gespräch damit konfrontiert, dass Dessi hinterhergepfiffen wurde als sie an ein Paar Männern vorbeilief und wie sie sich dabei fühlte. Die Reaktion des Mannes bezieht sich sofort auf die Gruppe „Mann“. Während Dessi von einer individuellen Erfahrung sprach. Es wird gar nicht erst versucht sich individuell auf dieses individuelle Beispiel einzulassen. Das Ziel eines solchen Gespräches ist in diesem Moment offensichtlich nicht einen generellen Misstand anzuprangern, sondern von einer ganz spezifischen Situation zu berichten, für die Dessi (in diesem Fall) sich ein wenig mehr Mitgefühl erhofft hätte.

    Auf der anderen Seite fand ich selbst mich schon allzu oft in folgender Situation: bei Diskussionen über Frauen-Quoten andere affirmative action Maßnahmen oder einfach nur einen generellen Missstand wurde vorschnell auf das Individuum abgestellt. „ICH (als reflektierter Debattierer) würde eine gleich qualifizierte Frau auch ohne Quote einem Mann vorziehen. Ich verstehe diese ganze Diskussion nicht! DU hast doch auch keine Probleme dich durchzusetzen, was schert es dich also? Vielleicht sind andere Frauen nicht willensstark genug.“

    Keinesfalls will ich mit diesem Kommentar versuchen zu sagen, dass alle Diskussionen derart ablaufen. Aber ich finde Dessis Appell unterstützenswert: wir sollten alle versuchen uns unserem Gegenüber bewusst mit mehr Mitgefühl zu nähern und und vor allem auch in angemessener Weise auf solche Situationen einlassen; sowohl als Teil eines Kollektivs (denn nicht immer sind wir selbst die Maxime) als auch als Individuum.

  2. Alex L. (DD) says:

    Eine kleine Ergänzung zu Teresas Beobachtung, dass sich die Fronten verhärten: Mir erscheint es ein generelles gesellschaftliches Phänomen zu sein, dass sich in vielen Reformprozessen der letzten 40 Jahre derzeit eine Anti-Stimmung einschleicht, die den großen Durchbruch verhindert. Exemplarisch sei dabei auf die Neger-Diskussion verwiesen oder die Frage, ob Juden Augstein einen Antisemiten nennen dürfen oder nicht; in beiden Fällen wirkte es auf mich, als ob das treibende Element ein Gefühl à la “Wir haben uns doch jetzt wirklich immer gefügt, wenn ihr (d.h. Schwarze, Juden etc.) uns gesagt habt, wir sollen das und das nicht sagen. Kann denn jetzt nicht mal Schluss sein mit dieser Schere im Kopf?” war. Unabhängig von der fehlenden Reflexion, dass es weniger um die Form als um den transportierten Inhalt geht, zeigt eine solche Einstellung meiner Meinung nach eine gewisse Müdigkeit, ein Wunsch danach, sich endlich einmal gehen lassen zu dürfen.

    Um damit den Bogen wieder zurück zur Sexismusdebatte zu schlagen: Hier scheint bei vielen Männern inzwischen ebenfalls ein Wunsch nach der abschließenden Generalabsolution vorzuherrschen. Wir fordern von euch weder, dass die drei K euer Lebensinhalt sein sollen, noch sprechen wir euch ab, dass ihr unser Boss sein könnt – dürfen wir dann nicht wenigstens eine zweideutige Bemerkung nach ein, zwei Bieren machen, ohne dass wir uns rechtfertigen müssen?

    Wäre dieses Phänomen nur bei Männern anzutreffen, wäre das Problem wahrscheinlich deutlich einfacher zu handhaben. Aber es hilft eben nicht, wenn es auch Frauen gibt, die das Thema Gleichberechtigung scheinbar abhaken wollen, mehr oder weniger aus der Umkehrung des oberen Satzes: Ich gehe meinen eigenen Weg und kann alles erreichen, wenn ich es nur wirklich möchte – kann ich dann nicht auf einen Mann warten, zu dem ich aufschauen kann und bei dem ich mich geborgen fühle, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen?

    Es ist daher immer wieder wichtig, uns daran zu erinnern, dass wir eben noch lange nicht in der perfekten Gesellschaft leben, in der es keinerlei Diskriminierung mehr gibt. Und vielleicht ist es sogar so, dass wir einsehen müssen, dass es so etwas wie perfekte Gesellschaft gar nicht gibt. Die Hauptsache ist jedoch, dass wir nie vergessen, dass gesellschaftliches Miteinander harte Arbeit ist und von uns verlangt, dass wir uns ständig hinterfragen.

    Aus diesem Grunde: Danke, Dessi, für diesen Appell für mehr Mitgefühl!

  3. Andrea G. (Mainz) says:

    Liebe Dessi,

    vielen, vielen Dank für diesen Beitrag. Irgendwie ist es ironisch, dass er hier auf dieser Seite über das Debattieren erscheint, während er mehr oder weniger das Gegenteil der Grundhaltung des Debattierens propagiert – das aufeinander Zugehen. Und auch wenn ich das nicht über viele Themengebiete sagen kann, so doch über dieses: Hier wird zu sehr debattiert. Debattieren ist hier in der negativen Hinsicht zu verstehen: der Verhärtung von Fronten, dem Willen, gegen alles ein passendes Gegenargument zu finden, auf jeden Fall Recht zu behalten. Oft wird das Debattieren als unverzichtbare Vorstufe zu einer begründeten Entscheidung beworben; dass jedoch in der Realität nichts schwarz und weiß ist und deswegen eine Debatte letztendlich nichts bedeutet, wenn man die Argumente der anderen Seite danach nicht ernsthaft in Betracht zieht, wird oft vergessen. Debattieren ist Teil eines Diskurses – kein Selbstzweck, und das ist eine Verantwortung derer sich Debattierer (oder Debattanten )bewusst sein müssen. Dementsprechend finde ich es auf gewisse Weise sehr passend, dass dies ein Kernpunkt des Artikels ist.

    Mitgefühl ist in einer Gesellschaft, in der es nicht systematisch implementiert ist, ein objektiver Nachteil. Wer mitfühlt, macht den ersten Schritt dazu, für andere Kriterien auf die Maximierung seines persönlichen Nutzens zu verzichten (dies bezieht sich nur auf objektive Kriterien; selbstverständlich kann der subjektive Nutzen groß sein). Zudem macht sich der, der „zuerst mitfühlt“ angreifbar, denn er macht im Gespräch mit einem anderen eine Konzession, auf die dieser nicht einzugehen braucht – er gibt ein Stück seines Bodens weg. Jeder von uns, der schon mal den Streit mit einer Bekanntschaft entschärfen wollte, indem er am Anfang sagte „Ich gebe zu, ich habe da einen Fehler gemacht“ und dem geantwortet wurde „Na klar hast du das! Und da, da und da auch noch!“ wird wissen, dass das aufeinander Zugehen auf Dauer nur dann funktioniert, wenn beide den Willen dazu haben. Meiner Meinung nach läuft genau das zur Zeit im Themenbereich Gender völlig falsch: Fast jedes Zugeständnis wird sofort zur Waffe für die andere Seite – vielleicht nicht direkt gegen die konkrete Person, die jetzt als die rühmliche und glänzende Ausnahme gefeiert wird, weil sie der eigenen Position einen Schritt weit zugestimmt hat, aber gegen andere Angehörige dieser Gruppe und damit auch wieder gegen die Person selber, die durch das bestärkte Stereotyp „Siehste! Frauen/Männer sind so“ indirekt wieder in Sippenhaft genommen wird. Viele von uns scheinen in dieser Thematik eine unerklärliche Angst zu haben, mit dem Versuch zu verstehen sofort all ihren gewonnenen Boden zu verlieren – ich nehme mich davon nicht aus.

    Ein Beispiel: Im Laufe der angestoßenen Sexismus-Debatte – die ich als wichtig empfand, unabhängig davon, wie ich zu ihrem Auslöser stehe – wurde von vielen Männern darauf hingewiesen, dass das Flirtverhalten von Frauen oft widersprüchlich und uneinheitlich sei und es von Männern doch erwartet würde, hartnäckig zu sein. Auch wenn ich der Meinung bin, dass es auch unter diesen Umständen durchaus möglich ist, Belästigung von einem Flirt zu unterscheiden, bin ich doch jederzeit bereit, diesen Punkt zuzugestehen und darüber zu diskutieren. Aber wie soll ich das tun, wenn jede Äußerung meinerseits nur als Bestärkung der eigenen Seite empfunden und der Rest überlesen wird? Was kann ich dann tun, damit ein Willen zur Verständigung nicht gegen mich verwendet wird? Wir stellen uns diese Frage – ich glaube berechtigterweise, denn leider ist in dieser Debatte so gut wie niemand von Haus aus Vermittler – der überwiegende Anteil ordnet sich ja einer der Betroffenengruppen zu.

    Wie löst man dieses Gefangenendilemma? Kooperation setzt Vertrauen voraus. Das aufzubringen ist eine Anstrengung, die nicht jeder auf sich nehmen möchte (ob dies eine sittliche Pflicht ist, überlasse ich den Philosophen). Wozu wir jedoch verpflichtet sind, ist, den Vertrauensvorschuss zu achten, den wir von anderen bekommen. Wenn jemand signalisiert, dass er bereit ist, zu reden und zuzuhören, dann sollten wir dasselbe tun – und nicht zuallererst versuchen, unser Revier zu verteidigen.

    Entschuldigung für die Länge dieses Beitrags.

    P.S.: An den Herrn, der im ZEIT-Online-Forum im Rahmen der Sexismusdebatte schrieb, er wechsle die Straßenseite, wenn er nachts in einer unbelebten Gegend zufällig hinter einer Frau läuft, um ihr keine Angst zu machen: Danke.

  4. Daniil says:

    Danke für die bisherigen Beiträge, die ich allesamt sehr erfrischend bereichernd fand. Ich empfinde es ja persönlich immer als besonders inspirierend, wenn Debattieren was mit der realen Welt zu tun hat. Und ich habe eine Frage. Was sagt ihr dazu:

    http://www.spiegel.de/politik/ausland/sexismus-debatte-obama-entschuldigt-sich-fuer-kompliment-a-892859.html

    http://www.slate.com/blogs/xx_factor/2013/04/05/why_obama_s_compliments_to_kamala_harris_aren_t_harmless_but_part_of_a_larger.html

  5. Jonathan Scholbach says:

    @ Daniil: Ich finde, dass Obama einen Fehler gemacht hat. In einem professionellen Kontext das Aussehen einer Person zu bewerten, erzeugt beim Publikum die Erwartung, dass diese Dinge irgendwie zusammengehören (weil diese Information sonst irrelevant wäre). Bei einem Mann wäre Obama niemals auf die Idee gekommen, das zu sagen. Ob man das als Sexismus bezeichnet, ist wieder mal eher eine Frage der Begrifflichkeit. Meiner Erfahrung nach ist Sexismus ein Reizwort und wird daher von vielen abgelehnt, wenn Vorfälle diskutiert werden, die man nicht so schlimm findet, oder als “Ausrutscher” etc. entschuldigen möchte. Will man begrifflich klar bleiben, sollte man sich m.E. daran halten, als Sexismus alles zu bezeichnen, was eine Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts ist, also auch diesen Vorfall. Ich nehme dann gern in Kauf, dass auch eine monosexuelle Präferenz von Sexualpartnern oder Brustkrebsvorsorge als sexistisch zu bezeichnen ist. Der Begriff ist dann erstmal analytisch, und nicht mehr rein normativ – es sei denn, man lehnt auch spezielle Brustkrebsvorsorgeuntersuchungen allein für Frauen ab, was ich aber für übertrieben halte.
    Aber nagut, das ist eine akademische Diskussion.

    Ich kann schon glauben, dass es von Obama “nicht böse gemeint” war, aber dennoch sollte man das nicht machen. Dieser Vorfall ist in meinen Augen auch ein gutes Beispiel für das Frauenquoten-Argument: Auch (heterosexuelle) Männer, die sich für Gleichberechtigung einsetzen, verhalten sich in verantwortlichen Positionen Frauen gegenüber anders, als (heterosexuelle) Frauen das tun, weil sie sie als potentielle Sexualpartnerinnen wahrnehmen. Auch ein gutwilliger Mann kann also die Perspektive einer Frau i.d.R. nicht vollständig ersetzen, wenn es um Gleichberechtigungsfragen geht. (Umgekehrt gilt das natürlich genauso.)

  6. Alex L. (DD) says:

    @Daniil:

    In Ergänzung zu Jonathan, der es besser auf den Punkt gebracht hat, als ich es könnte, möchte ich noch ergänzend auf folgenden Aspekt unserer derzeitigen Gesellschaft hinweisen, der mir stets als unglaublich taktlos und menschenverachtend erscheint und die Problematik der Komplimente für physische Eigenschaften in einem offiziellen Umfeld aufzeigt:

    Mir fällt immer wieder unangenehm auf, dass in (bemerkenswerter Weise in erster Linie in von Frauen verfassten) Berichten über weibliche Opfer männlicher Gewalt die Schönheit des Opfers hervorgehoben wird. Wiewohl mir klar ist, welchem Zweck dies dienen soll, führt dies nur dazu, dass ich anschließend das Opfer objektifiziere und unter dem Blickwinkel der Attraktivität betrachte. Das ist meiner Meinung nach ein Unding, schließlich sollte man gerade Opfer jeglichen Unrechts nicht noch zusätzlich entwürdigen – zumal die Tat ja nicht weniger schlimm wäre, wenn das Opfer hässlich sein sollte! Auch hier würde ich daher eine größere Sensibilität für die Konnotationen, die mit physischen Komplimenten einhergehen begrüßen.

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