Wie ich zu einem Stuhl mit drei Flügeln sprach / Eindrücke aus der englischen Debattierwelt

Datum: 26. Oktober 2010
Redakteur:
Kategorie: Turniere

“There’s no money in debateland!“ – dass alte Debattiererweisheiten im Mutterland des Wortsports dieselben wie in unserem schönen ZEIT-DEBATTEN-Land sind, wusste ich bereits nach meinem ersten Clubabend in der Leeds Debating Union. Auch, dass die “refreshing pint“, das kühle Bier nach einer hitzigen Debatte einfach dazugehört. Als Erasmus-Austrinkstudent an der University of Leeds erkunde ich nun seit einigen Wochen die britische Debattenkultur. Die Horrornachricht gleich zu Beginn: Es gibt keine OPD! Keine Kontaktfähigkeit, keine Sprachkraft, kein Auftreten. Die harte Realität auf der Insel heißt BPS, “always explain why!“ lautet der Auftrag. Doch nach dem Novice Cup 2010 in York sind meine anfänglichen Zweifel, wie ich nur ein ganzes Jahr ohne den unabkömmlichen dritten Teampartner, famose Zwischenrufe und große Gesten auskommen soll, mittlerweile verflogen – auch British Parliament hat Style!

Simon Scheller und sein Teampartner Bram Dehaene aus Brüssel in York. (Foto: John Taylor)

Da stand ich also am Samstagmorgen, übermüdet von der frühen Anreise, entnervt von den Problemen des Tabmasters und der ausschweifenden Regelkunde eines eloquenten Chefjurors. Vor mir ein Chair und seine drei Wings, der Hauptjuror mit den Nebenjuroren. Zu meiner Rechten ein House, das Glücksspiel verbannen würde. Links die Freiheitskämpfer der Opposition, darunter mein belgischer Teampartner Bram: “… that we are endowed with certain unalienable rights, among these are life, liberty and the pursuit of happiness. And whether I like to play poker in a pub or just want to have a refreshing pint there, I should be free to do so.“

Bill of Rights und Bier überzeugt scheinbar jeden Juror und so verschlug es uns in der zweiten Runde gleich mal in den “top room”, den Raum der Sieger aus der Vorrunde. Die “motion”, also das Thema, lautete: ”This house would give scholarships only to students of strategically important subjects“. Unsere “state as investor“-Extension verschafft uns Rang zwei. Nach dem Mittagessen: Eine Debatte zu internationalen Beziehungen. Beim “Raus aus Afghanistan-Klassiker reicht in einer mäßigen Debatte die Menschenrechtskeule zum Sieg, beste Breakchancen ins Finale also für unser Team Leeds C. Vor der letzten Runde bleibt die Gelegenheit, sich bei Pizza und Bier von erfahrenen britischen Debattierern die entscheidenden Tipps zu holen. Die Nazikeule solle ich als Deutscher besser stecken lassen, das dürfe hier nur die Boulevardzeitung The Sun. Die Juroren seien genauso unwissend wie in der Heimat und wollen alles ganz genau wissen. Am besten bei “Warum ist Demokratie gut?“ anfangen, wird mir geraten. Interessant, denke ich mir, in einem Land, in dem man mit 30 Prozent aller Stimmen die absolute Mehrheit erringen kann, wie es das britische Wahlrecht erlaubt. Bei den großen Turnieren auf der Insel gewinne meistens Oxbridge, auch das weiß ich jetzt.

Als ich von OPD erzähle, finden das alle sehr interessant und würden das gerne mal ausprobieren. Es gilt wohl noch viel Missionierung zu leisten, um die Botschaft des Fraktionsfreien Redners über den Kanal zu tragen. Doch zuvor noch eine Runde BPS: ”This house would invite everybody who wants to work in the UK to come here and feel free to do so.” Eine gute Debatte und eine noch bessere Nachbesprechung vor dem Debattenraum später hat es dann leider doch nicht gereicht. Der Break wird verkündet: Neun Rednerpunkte zu wenig. Im Finale zu This house believes that religion is a force for good in the world“ stehen Teams aus Durham und von der London School of Economics. Schade, ein bisschen Gotteslästerung hätte den Tag jetzt noch krönen können. Aber kein Problem, denken wir, vielleicht gibt’s ja beim nächsten Mal bei ESL (die Kategorie für Nichtmuttersprachler, “English as a second language“) was zu holen für uns.

Was auf jeden Fall bleibt, ist die Erkenntnis, dass Debattieren einfach immer Spaß macht, ob nun mit zwei oder vier Teams im Raum, “point of information“ oder Zwischenfrage. Pünktlichkeit gab und wird es auch bei englischen Debattierturnieren nie geben, und wenn es mit dem Break nicht klappt, sind sowieso immer die Juroren schuld. In Sachen Kreativität bei Teamnamen steht es um die Insel schlecht, doch es besteht Hoffnung: Vielleicht wird die Dominanz der A-, B- und C-Teams irgendwann gebrochen werden, die  Strahlkraft von Teams wie “Warwick 11 billion in welfare“ und “Birmingham heading to the social“ scheint schon heute am Horizont.

Bleibt zum Schluss die Frage: Sind englische Debattierer in irgendeiner Form anders als wir ZEIT-DEBATTEN-Redner? Gottgleiche Chefjuroren und selbstverliebte Stammtischphilosophen verleiten mich zu einem klaren Nein. Mindestens einer weiß es auch hier immer besser. Ich fühle mich also bestens aufgehoben in “genuine debateland“.

Simon Scheller / apf

Das diesjährige Novice IV in York war die Fortführung des Novice IV aus dem vergangenen Jahr in Nottingham. Das Anfängerturnier soll nun eine jährliche Veranstaltung werden, ausgerichtet von den Mitgliedsclubs der Northern and Midlands Debating Alliance in Großbritannien. Während in Nottingham noch 36 Teams antraten, waren es dieses Jahr in York bereits 56 Duos von Universitäten wie Leeds, Durham, Aberystwyth oder Nottingham. Als Anfänger gilt, wer noch nie auf Hochschulniveau debattiert hat und auch noch nie für ein Nationalteam bei Schools Debating ausgewählt wurde. Anfänger dürfen als Redner antreten. Erfahrene Debattierer sind beim Novice IV willkommene Juroren.

Simon Scheller studiert seit Beginn des laufenden Semesters im Rahmen des europäischen Austauschprogramms ERASMUS an der University of Leeds in England. Sein Studium begonnen hat er in Bayreuth, wo er den Bachelor of Arts in Philosophy & Economics machen will. Seit Beginn seines Studiums debattiert er im Debattierclub Bayreuth und war schon häufiger auf ZEIT-DEBATTEN-Turnieren anzutreffen.

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3 Kommentare zu “Wie ich zu einem Stuhl mit drei Flügeln sprach / Eindrücke aus der englischen Debattierwelt”

  1. Sehr sehr cooler Bericht!

  2. Alexander Siemun-Färdsich sagt:

    Awesome article!

  3. Jana sagt:

    Very diplomatic, Simon… quite unlike your last one! Nice work!

Kommentare sind geschlossen.

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