Debattengeeigneter Gerichts- und Verhandlungssaal eingeweiht
Die Streitkultur Tübingen weihte am Donnerstag, 10. Juni, einen Gerichts- und Verhandlungssaal an der Eberhard-Karls-Universität mit einer Deklamation und einer Debatte ein. Für den Verhandlungssaal zeichnet das Streitkultur-Ehrenmitglied Rüdiger Wulf, Juraprofessor an der Tübinger Uni, verantwortlich. Und standesgemäß für ein Mitglied des ältesten Debattierclub Deutschlands setzte sich Wulf dafür ein, dass der Saal nicht nur für Gerichtsverhandlungen taugt, sondern auch debattengeeignet ist. Wie Wulf als Mitglied der Ehrenjury bei der Tübinger ZEIT DEBATTE im Mai angekündigt hatte, spielte die Streitkultur eine wichtige Rolle bei der Eröffnung des neuen Übungssaals für Juristen und Debattanten.
Dass die Stadt Tübingen eine gewisse Tradition in der Rechtsprechung hat, wurde schon in der Begrüßungsrede klar; leider nicht immer eine rühmliche: Im Februar 1949 wurde eines der letzten (westdeutschen) Todesurteile dort gesprochen und vollstreckt. Verschiedene Gastredner, die zur Einweihung des „Gerichts- und Verhandlungssaals“ in der Neuen Aula geladen wurden, stellten darüber hinaus aber nicht nur die wichtige Rolle der Rechtswissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen heraus, sondern hoben auch hervor, wie bedeutsam es für (angehende) Juristen ist, das Wort und die Rhetorik zu beherrschen und gezielt einzusetzen.
Roman Kremer und der neue Deutsche Debattiermeister Peter Croonenbroeck machten den rhetorischen Anfang und beglückten die Gäste der Einweihung mit einer Deklamation zum „Kirschendieb-Fall“: Sie stritten darüber, ob der an den Rollstuhl gebundene Kriegsveteran Georgos schuldig ist. Der Hintergrund: Georgos schoss mit einer Schrotflinte in Richtung eines Baumes, auf dem ein Knabe trotz drohender Rufe Kirschen stahl. Das Geschoss traf den Baum, der Junge erschrak sich jedoch so sehr, dass er vom Baum fiel und sich ein Bein brach. (Wer mehr über die Deklamation wissen will, dem sei der Artikel „Wien deklamiert“ empfohlen, in dem das Format vorgestellt wird.)
Im Anschluss daran wurde über die Wiedereinführung des Universitätskarzers in Tübingen debattiert. Der Karzer war bis ins frühe 20. Jahrhundert eine Arrestzelle in Universitäten und Schulen, in Tübingen ist der älteste bis heute erhaltene akademische Karzer zu besichtigen, der von 1515 bis 1845 genutzt wurde. Anne Ilinca, Pauline Leopold und Mario Dießner forderten in der Debatte, Studierende, die zum Beispiel erkennbar Alkohol konsumieren, im eigenen Studiengang „wildern“ (Unzucht innerhalb eines Studienfachrichtung), plagiierte Arbeiten abgeben oder auch drei Mal das Tablett in der Mensa nicht abräumen, einzusperren – in eine (willkürlich ausgewählte) Herrentoilette des Brechtbaus (in dem kürzlich die Vorrunden der Tübinger ZEIT DEBATTE ausgetragen wurden). Ziel sollte es sein, mit dieser Sondergerichtsbarkeit sowohl das „Pack“ aus den Vorlesungen zu filtern, um eine gewisse Leistungsverbesserung erzielen zu können, als auch mehr Platz in Tübingens Innenstadt zu schaffen. Auf der Oppositionsseite sprachen sich Daniel Rau, Iris Reuter und Sarah John gegen dieses „spezielle Exzellenzprogramm“ der Tübinger Universität aus, da die künstlerischen Erzeugnisse, die von einer Gefangenschaft auf einem Herren-WC zu erwarten sind, bei Weitem nicht zu dem Prestige führen würden, das den Wandbildern und Sprüchen gerecht wird, die im historischen Tübinger Karzer entstanden sind.
Mit Ernst und Spaß wurde so der neue Tübinger Gerichts- und Verhandlungssaal in Betrieb genommen.
Text: Mario Dießner, Wortgefechte Potsdam und Streitkultur Tübingen / glx