Guilty pleasures, Lamm mit Minzsoße und die Liebe zu England – Andreas Lazar über das Manchester IV
Wer England kennt, muss es einfach lieben: Das berühmte nasse, aber milde Wetter, die alten Städte mit ihren beeindruckenden Backsteinbauten, die ausgeprägte Pubkultur mit guten Getränken und wenn nicht gesundem, so doch als „guilty pleasure“ sehr befriedigendem Essen wie großen Burgern, dick panierten Hähnchenflügeln, mit Öl, Essig und Ketchup übergossenen Pommes und nicht zuletzt die freundlichen und als Debattierer naturgemäß gesprächigen und gut informierten Menschen sind einen Besuch auf der Insel immer wieder wert. So war das auch beim Manchester IV 2011, das Ende Februar an der Universität der nordenglischen Stadt stattfand.
Während die sehr kompetenten und nahbaren Chefjuroren Ruth Faller (Chefjurorin der Galway Euros 2011) und Sam Block (Chefjuror der De La Salle Worlds 2012) 80 Teams betreuten, kümmerten sich die engagierten Mitglieder der Manchester Debating Union um das leibliche Wohl der Redner und Juroren und spielten vor den Runden immer wieder aufwendig gemachte Videoparodien bekannter TV-Shows wie „Dragons‘ Den“ und „Glee“ ein, lustig aufs Debattieren gemünzt. Per Akklamation durften die Teilnehmer sogar an einem interaktiven Debattierabenteuer teilnehmen: „Two people want to speak with you at an IV. Do you go with the Pro[fessional] or do you go with the Am[ateur]?
Nach einer bei britischen und irischen Turnieren üblich als „Crash“ (mit Schlafsack und Isomatte bei lokalen Debattierern auf dem mehr oder weniger aufgeräumten Boden) verbrachten Nacht begann das Turnier mit der ersten Runde zum Thema „This House believes that in times of state breakdown abroad, the UK government should prioritise the rescue of the UK citizens over other humanitarian concerns.“ Als Eröffnende Opposition sahen Michael Saliba und ich eine gute Strategie darin, zu beweisen, dass die Nachteile einer solchen Bevorzugung im Falle des Zusammenbruchs eines Staates ihre Vorteile überwiegen und dass sie prinzipiell unmenschlich sei, so als würde man von einem sinkenden Schiff nur die Passagiere retten, die gerne Lamm mit Minzsoße essen. Wir sprachen über die Folgen eines Staatskollapses und aus Empathie begründete Mitmenschlichkeit und haben so die Debatte gewonnen.
Runde zwei hatte zum Thema „This House believes that the state should force religious organizations to marry same-sex couples.“ Diesmal standen wir in der Eröffnenden Regierung. Die Knackpunkte dieser Debatte waren für uns, warum der Staat bei religiösen Organisationen durchgreifen darf und warum die Organisationen daran nicht zerbrechen werden. Wir wurden Zweite wie auch in der dritten Debatte, nun zum Thema „This House would punish internet and communication companies that comply with oppressive regimes‘ censorship policies“. Als Schließende Regierung konzentrierten wir uns darauf, zu begründen, warum Firmen als Bannerträger des Westens für unsere Werte stehen und warum diese Werte nicht “like Swiss cheese“ durchlöchert werden dürfen, wenn wir unseren moralischen Anspruch behalten wollen, mußten aufgrund einiger Versäumnisse der Eröffnenden Regierung aber auch noch Corporate Social Responsibility erklären, oder warum Firmen sich auch im Ausland nicht aus unserer Werteordnung ausklinken können. Bei Reden von nur fünf Minuten Dauer konnten all diese Aufgaben nebst nötigem Rebuttal etwas viel werden, aber rigorose SEXIER-Struktur (State-Explain-Illustrate-Explain Relevance) und schnelles Sprechen halfen uns, unsere Punkte gut, wenn auch manchmal nicht besonders schön zu vermitteln.
Das vierte Thema lautete „This House believes that the Republican party should actively try to suppress the Tea Party movement“. Wir waren uns, wie auch die anderen Teilnehmer der Debatte, mangels detaillierten Wissens und wegen der Unübersichtlichkeit des amerikanischen Vorwahlensystems unsicher, ob die Tea Party nun Teil der Republikaner sei oder nicht. Auch verfingen unsere Punkte über die Nachteile der Unterdrückung und die Vorteile der Existenz der Tea Party nicht recht im Fluß der Argumente, so dass wir leider Letzte wurden. Die letzte Runde war dann wieder mehr nach unserem Geschmack: Zum Thema „This House believes that post-genocide states should inflict very public long-term punishments on those involved in genocide“ sahen wir in der Schließenden Regierung eine effektive Siegstrategie darin zu analysieren, warum öffentliche Pranger und Sündenböcke abschrecken, erziehen und heilen helfen. Wir waren überzeugt, uns ganz gut geschlagen zu haben und gingen froh, aber noch ohne Feedback zu Buffet und preiswerten Cocktails in eine Kneipe in Manchester-Fallowfield, nahe der Studentenwohnheime. Dort erzählte uns die Cheforganisatorin Francesca Hall, dass dieses Manchester IV das größte seit Gründung des Turniers vor sechs Jahren sei und dass britische und irische Teams vor allem auf ein hohes Niveau und niedrige Teilnahmegebühren Wert legten, aber auch der Spaß nicht zu kurz kommen solle.
Den hatten wir nicht nur bei interessanten Gesprächen mit Debattiererinnen und Debattierern aus England, Wales, Schottland, Irland, den Niederlanden und Frankreich, sondern auch beim Break ins ESL-Finale (English as Second Language), den wir hinter den mehrfachen internationalen Champions Erasmus A aus Rotterdam (Jeroen Heun und Daniël Springer) als Zweite geschafft hatten. Zwei weitere niederländische Teams aus Utrecht breakten mit, und so hieß es am nächsten Tag nach den Viertel- und Halbfinals des allgemeinen Breaks zu den Themen „This House would criminalize the glorification of martyrdom“ und „This House believes that individuals in western developed countries have a greater moral responsibility to starving strangers overseas than to their own families“, aus der Eröffnenden Opposition gegen die sehr gut trainierten und cleveren Niederländer anzutreten.
Das Thema lautete „This House would be a pacifist“. Unsere größten Konkurrenten, Erasmus A, saßen hinter uns auf der Oppostitionsbank. So bemühten wir uns, möglichst alle starken Argumente gegen Pazifismus in befriedigender Tiefe auszuführen und sprachen daher über “jus ad bellum“, “jus in bello“, die Notwendigkeit militärischer Macht, um Werte bewahren zu können, die Verantwortung des Staates, seine Bürger zu schützen, die Heuchelei der Pazifisten gegenüber denen, die ihre Freiheit verteidigen, und die menschliche Natur, die immer einige nach Macht über andere streben lassen wird. Wir begannen mit aufs britische Publikum abgestimmten Scherzen („We Germans are sorry to march into this little Dutch tête-à-tête“) und endeten seriös und staatstragend, und so konnten wir am Ende eine Mehrheit der Juroren überzeugen und die Schale mit nach Hause nehmen. Die Niederlande gingen aber nicht ganz leer aus: Im Hauptfinale setzte sich Elisabeth van Lieshout aus Utrecht zusammen mit ihrem Teampartner Hugh Burns für Oxford in einer sehr guten Debatte zum Thema „This House believes that Western states should invent their own religion to promote liberal values“ aus der Eröffnenden Regierung gegen Teams aus Dublin, Durham und Leiden durch.
Fazit: Ein mit Liebe gemachtes Turnier, klasse Themen und tolle Leute – jeder sollte einmal nach Manchester fahren!
Andreas Lazar / apf