Daniel rezensiert: “Menschen lesen”
Unerfahrene Debattanten und Juroren empfinden den angemessenen Einsatz und die entsprechende Bewertung von Körpersprache oft als große Herausforderung. Hilfe bietet wie immer das „Lernen von den Profis“. Und das kann seit Neuestem neben Debattiervorbildern und gestandenen Juroren-Recken auch ein ehemaliger FBI-Agent sein.
Joe Navarro hat 25 Jahre lang für das FBI Verbrecher gejagt. Wer die Fernsehserien „The Closer“ und „Lie to me“ kennt, kann sich aus deren Schnittmenge ein grobes Bild seiner Arbeit als Verhörspezialist machen. Der Experte für die Interpretation nonverbaler Kommunikationsformen hat durch seine Befragungsmethoden dazu beigetragen, zahlreiche Ermittlungen erfolgreich abzuschließen. Seinen gesammelten Erfahrungsschatz hat Navarro in dem Buch „Menschen lesen. Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt“ zusammengefasst, das 2011 bereits in der zweiten Auflage im mvg-Verlag erschienen ist.
Ausgangspunkt für Navarros Beobachtungen ist die Überzeugung, dass nonverbale Kommunikation in der Regel unbewusst geschehe, ungesteuert, und daher als „ehrlicher“ zu bewerten sei als inhaltliche Komponenten einer Botschaft. Navarro steht damit in der Tradition von Wissenschaftlern wie dem amerikanischen Kommunikationspsychologen Albert Mehrabian. In umfangreichen empirischen Studien seit den 1960er Jahren haben sie immer wieder belegen können, dass Konflikte zwischen den drei Ebenen einer Botschaft – Inhalt, Ton und Körpersprache – bei ihren Empfängern zu Missverständnissen führen, die häufig auf Kosten des Inhalts gehen.
Größte Überzeugungskraft entfaltet demnach diejenige Ebene, der wir die größte Glaubwürdigkeit zusprechen. Dies sei – anthropologisch bedingt – die nonverbale Ebene. Phylogenetisch habe die Gattung Mensch, ontogenetisch das Individuum jeweils vorsprachliche Entwicklungsstadien durchlaufen. Als Höhlenmenschen und Säuglinge hätten wir gelernt, Botschaften allein durch nicht-inhaltliche Kommunikationsformen zu entschlüsseln. In einer Glaubwürdigkeitshierarchie hätten diese entsprechend einen deutlichen Vorsprung.
So knüpft auch Navarro an unser „limbisches Erbe“ an, jenen Teil des Gehirns, der maßgeblich für unbewusste Verhaltensformen verantwortlich ist. Hier sieht Navarro den Ursprung nicht nur für grundlegende Reaktionen auf bedrohliche Situationen (Schockstarre, Flucht, Kampf), sondern auch für ein breites Spektrum kleiner und großer körperlicher Ausdrücke des Wohlbefindens und des Unbehagens. Für Winnie-den-Debattier-Bär liegt hier der Honigtopf des Buches vergraben.
Navarro gibt eine anschaulich Darstellung einzelner Ausdrucksformen der Körpersprache. Die Gliederung des Buches folgt der menschlichen Anatomie. Beine und Füße, Rumpf und Schultern, Arme, Hände und Finger und schließlich Gesicht und Mimik werden in einzelnen Kapiteln besprochen. Dabei werden die verschiedenen Gesten stets in ein graduelles Raster eingeordnet. Der Leser erfährt, welche Gesten häufig Unwohlsein und Unsicherheit, Angst und Anspannung ausdrücken und welche Haltungen oft als Zeichen für Gelassenheit, Entspannung, Selbstsicherheit oder gar Dominanz sprechen.
Auch dynamische Entwicklungen oder abrupte Veränderungen in der Körpersprache werden thematisiert. So lernt man beispielsweise zu erkennen, wo ein Gegenüber sich nach einem Themenwechsel wieder auf sicherem Boden wähnt – um dann vielleicht bei dem letzten Punkt noch einmal nachzuhaken.
In 90 Abbildungen (die häufig den Autor selbst zeigen) wird dem Leser vor Augen geführt, wie unterschiedliche Arten, die Arme zu kreuzen oder die Finger zu verschränken auf uns wirken, welche Haltungen eher Barrieren aufbauen und welche Nähe schaffen oder wie sich geschürzte Lippen anders interpretieren lassen als zusammengepresste. In 58 farblich abgesetzten Infokästen gibt Navarro konkrete Beispiele aus seiner Arbeit als Ermittler und als Coach. Sie sollen helfen, die theoretischen Ausführungen zu veranschaulichen, wirken aber oft sehr sensationalistisch und können geflissentlich übersprungen werden.
Der flüssige Stil des Textes ist häufig etwas salopp, Wissenschaftlichkeit sollte trotz vieler Quellenangaben und eines kurzen Literaturverzeichnisses nicht erwartet werden. Der vollständige Index ermöglicht jedoch eine präzise Stichwortsuche.
Navarro warnt – zu Recht! – wiederholt davor, seine Interpretationen als absoluten Maßstab zu betrachten. Er verweist immer wieder darauf, dass persönliche Angewohnheiten, der situationsabhängige Kontext sowie soziale und kulturelle Prägung bei der Beurteilung nonverbaler Kommunikation zu berücksichtigen sind. Dennoch liest sich sein Buch über weite Strecken leider wie eine sehr eindimensionale Körpersprachen-Fibel, in der schwarz und weiß, richtig und falsch allzu oft keinen Raum für die vom Autor selbst eingeforderte Differenzierung lassen.
Das Buch ist daher mit Vorsicht zu lesen. Eine Kaufempfehlung gibt es von mir nur für Leser, die bereit sind, sich konsequent der Verführung einer unangemessenen Verallgemeinerung des Gelesenen zu widersetzen.
Wer dies tut, wird durch die Lektüre ein Gespür für die Risiken, die sich in der Körpersprache verstecken, gewinnen. Navarros Buch schärft das Bewusstsein dafür, dass einzelne Haltungen häufig auf eine bestimmte Art und Weise interpretiert werden „können“. Wenn man sich auch gegen undifferenzierte Deutungsmuster wehren muss, sollte man zumindest anerkennen, dass hier Gefahren lauern, die umgangen werden sollten.
Viele Debattanten kennen aus dem Feedback den Hinweis, man müssen den Juroren „erklären, was man meint“. Juroren seien nicht dazu da, zu erraten, was die eigene Schlussfolgerung ist. Ähnlich gilt: Man soll die Juroren nicht verwirren! Das zu beherzigen bedeutet, sich nicht darauf zu verlassen, dass die Juroren einen unsicher vorgetragenen Punkt dennoch als starkes Argument verbuchen werden. Redner, die vermeiden wollen, ihre Argumentation durch unüberlegte Gesten zu untergraben, finden hier zahlreiche Anregungen. Sie lernen, das Restrisiko der Fehlinterpretation zu minimieren.
Auch unerfahrene Juroren finden in dem Buch viele Hinweise, ihren Blick zu schärfen. Dem wenig hilfreichen Feedback „Du hast auf mich sehr unsicher gewirkt!“ kann ein konkretes „… weil Deine Hände/Deine Schultern/Deine Beine …“ angefügt werden. Wiederum gilt, dass Navarros Interpretationskatalog nicht verbindlich übernommen werden darf. Als Anleitung, worauf man achten sollte und welche Deutungsalternativen es gibt, ist er dennoch eine wertvolle Hilfe.
Nicht als Checkliste, aber als Augen-Öffner ist der Titel ein unterhaltsamer Lesespaß.
Joe Navarro mit Martin Karlins
„Menschen lesen. Ein FBI-Agent erklärt, wie man Körpersprache entschlüsselt“
(Titel der amerikanischen Originalausgabe: „What Every Body is Saying“)
Übersetzt von Kimiko Leibnitz
mvg-Verlag, München 2011 (2. Auflage)
ISBN: 978-3-86882-213-7
270 S.; 16,95 €
Daniel Sommer / glx / apf
Joe Navarro, Jahrgang 1953, studierte Verwaltungswissenschaft und Internationale Beziehungen bevor er in den Polizeidienst eintrat. Von 1978 bis 2003 war der Verhörspezialist als Special Agent und Supervisor des FBI in den Bereichen Gegenspionage und Terrorismusbekämpfung tätig. Navarro, einer der Gründungsmitglieder der berühmten „Behavioral Analysis Unit“ des FBI, arbeitet heute als Hochschuldozent sowie als Berater für amerikanische Sicherheitsbehörden und Trainer für Wirtschaftsunternehmen. Der Autor von fünf Büchern ist auch unter professionellen Pokerspielern ein gefragter Coach für die Entschlüsselung nonverbaler Kommunikation. Mehr über Navarro gibt es auf seiner Internetseite.
Unser Autor Daniel Sommer ist Deutscher Vizemeister 2008 und war bester Finalredner der Meisterschaft 2005. Außerdem war Daniel Chefjuror der Deutschen Meisterschaften 2007 und 2009. Heute ist Daniel eine Debattierlegende – manche Redner sind bereits mit Zitaten von Daniel Sommer auf den T-Shirts gesichtet worden. Unlängst wurde Daniel bester Finalredner beim Rheingötter-Debattierwettstreit und darf sich nun Rheingott 2011 nennen.
Cooler Text, Daniel!