Mythen der Realität – Andreas C. Lazar über den Umgang mit (un)angenehmen (Un)Wahrheiten
Während der Termin des zweiten Jurier-Think-Tanks bereits angekündigt wurde, veröffentlichen wir auf der Achten Minute nach und nach die Vorträge und Ergebnisse des ersten Think-Tanks Anfang Juli. Neben den thematisch zugeordneten Blockbeiträgen hielten Bernd Hoefer, Dessislava Kirova und Andreas C. Lazar auf dem Think-Tank drei Einzelvorträge, welche nun auch auf dem Blog für Jurierqualität zur Verfügung stehen. Im Mittwochs-Feature dieser Woche steht der Vortrag von Andreas zur Diskussion:
Ein fast fiktiver Debattierdialog:
Redner*in: „Volksabstimmungen sind schlecht, da Bürger*innen irrational entscheiden!“
Zwischenfrage: „Gilt das nicht auch für Wahlen? Wozu dann noch Demokratie?“
Redner*in (denkt): „Alle wissen, dass Demokratie gut und richtig ist. Daher kann ich nicht sagen, dass Bürger*innen auch bei Wahlen irrational entscheiden. Aber wenn ich es nicht sage, widerspreche ich meinem Argument! Und ich kann auch nicht den Unterschied zwischen Volksabstimmungen und Wahlen erklären, oder warum Demokratie auch mit irrationalen Wähler*innen funktionieren kann, weil ich keine Zeit habe und das schwer zu erklären ist. Was mache ich nur, was mache ich nur …?“
Redner*in: „Das frage ich mich auch manchmal!! Hahaha. Haha. Ha.“
Ein „Mythos der Realität“ oder eine unangenehme Wahrheit liegt dann vor, wenn die „offizielle“, das heißt allgemein akzeptierte Begründung oder Erklärung eines Ziels, Konzepts oder Ideals dessen häufiger Praxis zuwiderläuft. Das kann unter anderem dann der Fall sein, wenn die tatsächliche Begründung gesellschaftlich inakzeptabel wäre oder die Erreichung der Ziele erschweren würde, oder wenn der Mythos historisch gewachsen ist. Das rational-logische und agonale Vorgehen des Debattierens kann zu Problemen führen, wenn es solche Widersprüche aufdeckt und deren Auflösung für den oder die Redner*in zeitlich oder intellektuell unmöglich ist oder ihm schaden würde. Weitere Beispiele neben dem oben genannten könnten der Spitzensport sein (Mythos: nobel, fair und inspirierend; Wahrheit: korrupt, gedopt und kommerzialisiert; Warum der Mythos? Die Realität würde abschreckend wirken sowie Profite und Nachwuchs verringern) oder Menschenrechte (Mythos: universal; Wahrheit: sofern es den Mächtigen auf der Welt in den Kram passt; Warum der Mythos? Die Realität würde zynisch, willkürlich und demotivierend wirken).
Zur weiteren Analyse dieses Phänomens möchte ich eine grobe Fallunterscheidung des Wahrheitsgehalts und der Überzeugungskraft von Aussagen in Debatten treffen und sagen, dass ein(e) …
- „Unstrittige Wahrheit“ eine Wahrheit ist, die überzeugt (z.B. „Bildung ist gut“)
- „Mythos der Realität“ eine Wahrheit ist, die nicht überzeugt (Beispiele siehe oben)
- „Schmeichelnde Lüge“ eine Unwahrheit ist, die überzeugt (z.B. „Der Westen ist gut“)
- „Debateland-Aussage“ eine Unwahrheit ist, die nicht überzeugt (z.B. „Alle Grenzen zu öffnen ist gut“).
In Wirklichkeit sind diese Kategorien natürlich nicht scharf und klar voneinander zu trennen, schon allein weil Wahrheit, zum Beispiel definiert als Feststellung und Interpretation wahrer Fakten, strittig sein kann, von der Gewichtung verschiedener Werte ganz zu schweigen. Doch (der Mythos der) Trennbarkeit kann für Zwecke der Analyse nützlich sein, sofern deren Ergebnisse nicht naiv auf die Realität übertragen werden.
Zur Illustration können wir nun die vier Gruppen von Aussagen auf ein Koordinatensystem aus Wahrheit und Überzeugung auftragen, jeweils für ein Laienpublikum und für Debattierjuror*innen, um mögliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen:
Als deutschsprachige Debattierszene stimmen wir wohl fast alle darin überein, dass wir beim Debattieren neben anderen Zielen Überzeugung und Analyse schulen wollen, weil sie nützliche Werkzeuge für das weitere Leben sind. Ich bin darüber hinaus der Meinung, dass wir auch Wahrheit schulen sollten. Dies führt meines Erachtens unter anderem zu einem vertieften Verständnis von und effektiverem Handeln in der Welt, einem klareren Selbst- und Fremdblick, und einer Verringerung der Gefahr eines Wettrüstens plausibler Unwahrheiten.
Wenn wir dieses Ziel bejahen, erscheint es dann aber unfair, dass Redner*innen für Faktoren außerhalb ihrer Kontrolle, nämlich die Mythen der Realität und das logisch-rationale Vorgehen des Debattierens, das sie aufdeckt, bestraft werden, indem ihre Reden weniger überzeugend wirken, obwohl deren Aussagen wahr sind. Durch den daraus entstehenden Frust und die auftretende Verwirrung können die Ziele des Debattierens und die Freude daran gefährdet werden.
Um das Debattieren zu stärken, den Konflikt zwischen Überzeugung und Wahrheit zu lösen, die Mythen der Realität zu durchdringen und fairere Bewertungen zu erhalten, sind mehrere Maßnahmen sowohl für den internen Dialog unserer Szene zwischen Redner*innen und Juror*innen als auch für den externen Dialog zwischen Debattierer*innen und Publikum denkbar. Hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Vorschläge:
Maßnahmen für internen Dialog | Maßnahmen für externen Dialog |
· Scharfer Blick auf Selbst und Welt · Eigene Überzeugungen hinterfragen · Gemeinsam Realität analysieren · Wahr wirkende Analysen honorieren · Leitlinien + Materialien aktualisieren · Themen nicht auf Mythen basieren · Gnothi seauton! |
· Blick für den Konflikt schärfen · Diskussion über Gewichtung der Ziele Überzeugung und Wahrheit; zum Beispiel wieviel Populismus wollen wir? · Methoden der wahrheitsgemäßen Überzeugung lehren, zum Beispiel Empathie, Publikum da abholen, wo es steht |
Schließlich könnten diese Maßnahmen auch helfen, das Territorium von „Debateland“ zu verkleinern, jenes fiktiven Orts, in den wir uns manchmal begeben, um Debatten abzuhalten. Einige seiner Fiktionen wie das „minimal effektive Fiat“ (auch als „Debattierfee“ bekannt, die alle Wünsche erfüllt), also die geringstnötige Macht, um einen Antrag umzusetzen, sind weiterhin nützlich, um Debatten über praktische Aspekte interessanter Ideen führen zu können, die in der Wirklichkeit nur eine sehr geringe Chance hätten, umgesetzt zu werden. Andere Fiktionen stoßen aber bei einem Laienpublikum häufig auf Unverständnis und vermitteln auch Debattierer*innen, die sich regelmäßig in Debateland aufhalten, ein verzerrtes und verwirrendes Bild von der Wirklichkeit. Durch mehr Schulen von Wahrheit im Debattieren könnten diese schädlichen Fiktionen mit der Zeit stark verringert werden. Am Ende könnte das Bild dann für Juror*innen wie für Laien wie folgt aussehen, mit Überzeugung und Wahrheit im Einklang:
Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.
Andreas C. Lazar arbeitet bei Eurostat in Luxemburg und ist Mitglied des Debattierclubs Stuttgart. Er war bester Redner in „Englisch als Fremdsprache“ der Weltmeisterschaft 2011, unter anderem Gewinner des Schwarzwaldcups Freiburg 2014 und des Ironmanturniers Münster 2012, und Finalist in zahlreichen Turnieren von Oxford bis Moskau. Als Juror breakte er bei der Weltmeisterschaft 2013 und leitete die ZEIT DEBATTEN Dresden 2014 und Stuttgart 2010 sowie mehrere kleinere Turniere. Er hat das Stuttgart IV 2011 und weitere Turniere in Stuttgart organisiert und hält dort auch weiterhin Debattierseminare für Studierende im Rahmen der fachübergreifenden Schlüsselqualifikationen.