Sümpfe, dritte Augen und diagonale Vergleichbarkeit – Taktik und Strategie in Debatten
In meinem letzten Artikel hatte ich mich mit der logistischen, taktischen und strategischen Dimension der Vorbereitungszeit beschäftigt, um Rednerinnen und Rednern unabhängig vom konkreten Thema Tipps zu geben, die sich hoffentlich vor möglichst vielen Debatten anwenden lassen. Auf die gleiche Weise möchte ich nun betrachten, was man in Debatten tun kann, um öfter zu gewinnen.
Logistik
Das Oxford IV ist dafür berüchtigt, seine Teilnehmer in Schränken unter der Treppe debattieren zu lassen. Die Juroren sitzen fast auf den Schößen der Redner, beim Schreiben sticht man der Schließenden Opposition mit dem Ellbogen ins Auge, und spätestens bei den Whips wird auch der Sauerstoff knapp. Von diesen und anderen widrigen Bedingungen sollte man sich aber nicht abhalten lassen, eine konstante Performance abzuliefern. Wie immer helfen genug Schlaf, Nahrung und Wasser, die Konzentration länger zu halten. Vor allem in sehr guten, aber auch sehr schlechten Räumen ist es wichtig, mental fokussiert zu bleiben, um nichts zu verpassen, und nicht in den Mühen der Ebene steckenzubleiben, um wie Gewinner auszusehen. Sagt Euch immer wieder, dass Ihr im Top-Raum seid, weil Ihr ein Top-Team seid und Top-Reden haltet, auch wenn Euch mangels Klimaanlage und dank 40° Celsius wie bei der EM in Belgrad das Wasser nur so herunterläuft. Wenn Ihr wie nasse Hunde wirkt, kriegt Ihr auch nur Punkte für Pudel. Besonders im „Sumpf“ der untersten Räume lauft Ihr dann Gefahr, auf Dauer zu Moorleichen zu werden, weil tendenziell die Juroren immer schlechter und die Debatten immer konfuser werden und es immer schwerer fällt, sich aus dem Redeschlamm herauszugraben. Also, auch wenn es Überwindung kostet: „Lacht, und die Welt lacht mit Euch“ (Oh Dae-su, „Oldboy“).
Taktik
Eure Aufgabe ist, die anderen drei Teams in der Debatte zu besiegen, und zwar in den Augen der Juroren. Gewöhnt Euch daher an, die Debatte mit einem „dritten Auge“ zu sehen, und stellt Euch z.B. folgende Fragen: Welches Team gewinnt gerade? Was tut uns jetzt weh? Wie können wir (klarer) gewinnen? Eigene Juriererfahrungen sind dafür ebenso hilfreich wie Beobachten der Juroren und gutes Zuhören.
- In der ersten Hälfte könnt Ihr den qualitativen und/oder quantitativen Hauptteil Eurer Argumentation entweder beim ersten Redner bringen („frontloading“) oder beim zweiten („sandbagging“). Ersteres hat den Vorteil, dass das gegenübersitzende Team erstmal beschäftigt ist, Euer Material zu widerlegen, das Euer zweiter Redner dann reparieren und weiter aufklären kann, wobei er auch viele mögliche Extensions vorwegnehmen kann. Zweiteres hat vor allem in der Eröffnenden Opposition den Vorteil, dass es nicht mehr in der ersten Hälfte widerlegt werden kann, was sich dann gut für offensichtliche, leicht vorhersehbare Punkte anbietet, aber Euch womöglich beim ersten Redner schlecht aussehen lässt („Warum spricht er denn nicht über …“). Falls das gegenübersitzende Team sehr schlecht ist, müsst Ihr unbedingt die bestmögliche Version seiner Argumente widerlegen und es gut dastehen lassen (aber natürlich schlechter als Euch), da sonst die Gefahr einer Schließende-Hälfte-Debatte entsteht („Eine richtige Auseinandersetzung fand erst in der zweiten Hälfte statt, weswegen wir …“)
- In der zweiten Hälfte müsst Ihr gut zuhören, um nicht bereits ausgeführte Punkte als Extension zu verkaufen. Geht im Zweifelsfall auf Nummer Sicher und macht etwas auf jeden Fall Neues, aber versäumt auch nicht, offensichtliche Argumente zu nennen, wenn sie in der ersten Hälfte aus irgendeinem Grund vergessen wurden. Schaut Euch noch nicht betrachtete, aber wichtige Gruppen an, holt wichtige Analysen, Mechanismen und Gewichtungen nach, sprecht über Prinzipien, wenn die erste Hälfte über Praktisches gesprochen hat oder umgekehrt, oder zeigt eine internationale oder langfristige Perspektive. Die Whips sollten an der Grenze zur Würdelosigkeit anpreisen, wie herrlich und hervorragend, wie zentral und entscheidend der Beitrag ihres Teampartners war („Nur Max hat mit erzener Stimme klargemacht, dass …“), und je nach größter Gefahr entweder vor allem positiv argumentieren (wenn die größte Gefahr aus der eigenen ersten Hälfte kommt) oder vor allem negativ (wenn sie von der anderen Seite kommt).
- Eigene Zwischenfragen sind dafür da, wichtige eigene Argumente wieder ins Spiel zu bringen (vor allem, wenn Ihr Gefahr lauft, von den anderen Teams ignoriert zu werden: boxt Euch zurück!), wichtige gegnerische Argumente anzugreifen oder zu interagieren und Vergleichbarkeit zu schaffen, vor allem diagonal. Zwischenfragen des anderen Teams auf der eigenen Seite sind dafür da, um dessen Punkte vorherzusehen und sich womöglich davon „inspirieren“ zu lassen, und Zwischenfragen der gegnerischen Teams dienen allen eben genannten Zielen. Wenn das andere Team auf Eurer Seite steht, solltet Ihr auch stehen. Wendet Euch beim Fragen den Juroren zu.
Strategie
Je mehr Zeit ihr in den besten Räumen verbringt, desto bessere Rednerpunkte erhaltet Ihr, und desto besser könnt Ihr Eure wahrscheinlichen Finalrundenkonkurrenten ausspionieren. Welche Arten von Themen beherrschen sie gut, welche schlecht? Ist ein Teampartner viel stärker oder schwächer als der andere? Lassen sie sich von Zwischenfragen oder Grimassen herausbringen? Wissen ist Macht, nicht wissen macht was! Viel Glück …
Der Autor: Andreas C. Lazar war auf mehr Turnieren, als er zählen kann, und ist unter anderem Halbfinalist (ESL) und Bester Redner (EFL) der Weltmeisterschaft 2011 in Botswana sowie Breakjuror der WM 2013 in Berlin. Er ist Mitglied und Trainer des Debattierclubs Stuttgart e.V. und promoviert an der Universität Stuttgart zu Kompetenzentwicklung im Berufsbildungsbereich.
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