Wie ich beim Debattieren blieb – Jule Biefeld erzählt
Neben vielen Gelegenheiten zur Diskussion, kommen im Mittwochs-Feature manchmal auch schlichtweg interessante Erzählungen. Jule Biefeld bietet uns heute eine Mischung aus beidem.
Normalerweise schreibe ich über Jurierqualität oder über aktuelle Themen im Debattieren. Aber heute möchte ich über meine Erfahrungen im Debattieren schreiben. Wie ich zum Debattieren gekommen bin, warum ich weiter gemacht habe und was ich glaube, wie man Lust bekommt, sich zu engagieren. Wer eine unglaubliche Analyse erwartet kann nun beruhigt aufhören zu lesen. Wer Lust hat, mit etwas Biografie das Sommerloch zu stopfen, nimmt sich jetzt ein kaltes Getränk, lehnt sich zurück und hört zu, warum das Debattieren mein Leben verändert hat.
Frisch aus der Schule und mit einem naiven Blick auf die Welt war ich an meinem ersten Tag an der Uni. Es wurden uns die verschiedenen Clubs, Ressorts und Engagement-Optionen vorgestellt. Wir hörten vom Partyressort, dort wurde gesoffen und gefeiert. Vom Club, der im Altersheim Menschen den Umgang mit Computern beibrachte, und vom Börsenclub. Alles nicht so ganz mein Fall. Dann kam ein Mensch nach vorne, der vielen von euch bekannt ist. Julian Vaterrodt. Wer ihn nicht kennt muss nur wissen: Julian spricht ohne Probleme 200 Wörter pro Minute (der durchschnittliche Mensch ca. 90 -120 Wörter pro Minute). Die meisten Zuhörer schalteten nach einer Minute ab, denn dieser Typ mit Bart erklärte in Lichtgeschwindigkeit, dass man von ihm Argumentieren lernt und dass das ja im Leben hilft. Das Partyressort hatte gratis Bier ausgeteilt, er erzählte uns von Argumentationstheorien. Die Abwägung war vielen klar.
Ich fand diesen Typen aber lustig und ging am Dienstag zum Training. Was dabei heraus kam? Nun, drei Jahre später kann ich sagen: Eine Freundschaft zu Julian und eine Obsession zum Debattieren.
Nach wenigen Wochen wurde ich auf Turniere gezerrt. Mein erstes Turnier überforderte mich auf vielen Ebenen. Erstens hatte ich sofort das Gefühl, unglaublich dumm zu sein. Ich wusste nicht, was Effektiver Altuismus ist – und das wurde besprochen, als müsste jeder diese Philosophie mit der Muttermilch aufgesaugt haben. Außerdem sprachen alle in Abkürzungen. POI, OG, OO, CA waren nur einige von denen. Ich fühlte mich fast wie in einem fremden Land.
Die Begeisterung mit der so viele Menschen an das Debattieren heran traten, faszinierte mich. Der Wille zu debattieren erstreckte sich auch auf die Partys und Freizeit. Das jedes Thema das Potenzial hatte, zu einer Debatte zu werden, wurde mir klar als ich am Tisch mit einigen Debattanten saß und einer nur sagte: „Atombomben, sollten wir nicht auch eine haben?“ Alle schauten die Person an und begannen mit der Abwägung.
Später habe ich versucht, genau diesen Gesprächsanfang bei verschieden Gruppen zu testen. In jeder Gruppe von Debattierern wurde eine lebhafte Debatte geführt. In meiner Uni schauten alle nur komisch und meine Familienmitglieder rollten nur die Augen und sprachen lieber über das Wetter.
Ich glaube diese Begeisterung, erst mal alles in Frage zu stellen und eine Diskussion zu starten, fasziniert mich bis heute.
Ganz zum Leidwesen meiner Familie. Vor dem Debattieren hatte ich keine Berührungen mit Feminismus, Altruismus, Neomarxismus oder Existenzphilosophie. Nach nur einem Jahr Debattieren zwang ich meine Mutter zu Gesprächen über genau diese Dinge und ich glaube sie wünscht sich manchmal, dass ich nie damit angefangen hätte.
Am Anfang war es schwer für mich, Fuß zu fassen im Debattieren. Klar, ich hatte die BDS und hatte dort Freunde, aber auf Turnieren ist es schwer, andere wirklich kennen zu lernen. Dies ist bis heute ein Problem im Debattieren. Man sieht seine Freunde nur alle paar Wochen oder Monate auf Turnieren und manchmal neigt man dazu, sich mit diesen abzuschotten. Ich muss mich auch immer wieder dazu bringen, von meinen Freunden weg zu gehen und neue Menschen kennen zu lernen. Dabei entwickelte ich eine Technik, die ich bis heute auf jedem Turnier anzuwenden versuche. Ich gehe immer auf eine „neue“ Person auf einem Turnier zu. Versuche, ein wirkliches Gespräch zu haben und nicht nur bei small talk zu bleiben. Dadurch lernte ich schnell viele Leute kennen und habe bis heute wunderbare Freundschaften herausgezogen.
Vielleicht sollten wir uns alle manchmal von unserem Club und Freunden lösen und einfach mal mit anderen reden.
Ich glaube, ich hatte oft Glück im Debattieren. Schnell lernte ich Menschen wie Barbara Schunicht und Philipp Schmidtke und andere wundervolle Menschen kennen. Sie nahmen mich an die Hand und zeigten mir das Jurieren. Ohne die vielen Menschen aus anderen Clubs, die mir gezeigt haben, wie Jurieren geht, hätte ich nie so viel Interesse gezeigt. Unser kleiner Club mühte sich sehr, uns viel beizubringen, aber die Ressourcen waren limitiert. Genau an dieser Stelle waren gute Chairs, CAs und offene Menschen so wichtig für mich. Sie machten aus mir einen kleinen süchtigen Debattierer. Ich jagte nach mehr Wissen und heimlich auch nach dem nächsten Break als Juror. Wir können noch so gute Veranstaltungen haben, wenn Leute nicht hin gehen, nützen sie nichts. Wie bekommen wir Menschen dauerhaft in den VDCH? Durch Begeisterung. Begeisterung fürs Debattieren und für die Szene. Für die Menschen.
Es ist nicht zu bestreiten, dass manchmal andere Dinge im Leben zurück blieben. Ich ließ so manche Stunde in der Bibliothek liegen, um auf ein Turnier zu fahren. Nur, ich hatte wirklich das Gefühl, viel zu lernen. Feminismus habe ich nie als Thema in der Schule gehabt und hatte meine Augen teilweise vor den Problemen von Frauen verschlossen. Debattieren zeigte mir, dass es dort enorm viel zu entdecken, lernen und ändern gibt. Meine Mutter würde sagen, dass ich besser in die Bibliothek hätte gehen sollen. Mehr lernen. Aber ich habe von dieser Gruppe Menschen so viel gelernt, dass ich bis heute kaum ein Turnier bereue (außer es gab mal wieder nichts zu essen, keinen Schlaf oder einen heftigen Kater).
Ich wäre wohl kein Debattierer, wenn es zu dieser Geschichte nicht eine Moral gäbe, die ich euch auf den Weg geben möchte und mit euch diskutieren möchte.
Mein Engagement und meine Liebe zum Debattieren und die zahlreichen Freundschaften, die weit über Turniere hinaus gehen, wären nie passiert, wenn wunderbare Menschen mir nicht unter die Arme gegriffen hätten. Mich mit offenen Armen aufgenommen hätten und mir erklärt hätten, was ein POI ist. Ihr wollt dass die Debattierwelt wächst und gedeiht? Dann lasst uns raus gehen, miteinander reden und andere willkommen heißen. Ich weiß, manchmal ist es einfach angenehm, unter Freunden zu bleiben. Aber wenn das Debattieren weiter Menschen begeistern soll, damit sie sich im VDCH oder den Clubs engagieren, dann haben wir alle eine Verantwortung, diese freundlich und offen aufzunehmen. Zu oft kommen junge Menschen zu uns und werden nie wieder gesehen. Was können wir verbessern? Wo kann jeder von uns einen Schritt nach vorne machen?
jbi./lok.
Jule Biefeld war unter anderem Chefjurorin der Deutschsprachigen Debattiermeisterschaft in Dresden 2017, der ZEIT DEBATTE Hannover 2016 und der ZEIT DEBATTE Wien 2017. In der Saison 2016/17 und 17/18 ist Jule Beirätin für Jurierqualität im VDCH. Sie gewann den Gutenbergcup 2018 und war von 2014 bis 2015 Vizepräsidentin der BiTS Debating Society in Iserlohn und 2017 bis 2018 Vizepräsidentin im Debattierclub klartext Halle e.V.
Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.
Super Text!
Wahrscheinlich wäre ich ohne Phillip Schmidtke oder Christoph Saß auch nicht geblieben und hätte mein Studium mal eben so um X Semester verlängert, um dabei sein zu können. Vielleicht ist das genau die Sinnerzählung, die es braucht, um das Debattieren weiter zu fördern.
Was bleibt… (Auswahl)
Das wohl nerdigste (und diverseste) Netzwerk in meinem Umfeld.
Die Fähigkeit in 15 Minuten ein Argument richtig gut zu machen .. oder ..
In 1 Minute 15 richtig gute Ansatzpunkte zu finden.
Die ständige Suche nach Nuggets (gute Argumente/Artikel zu Themen etc.).
Empthiefähigkeit und Respekt.
Geschichten, die man noch seinen Enkeln erzählen kann.
Diese Momente, wenn du dir sagst „ach, das haben wir schon vor 5 Jahren debattiert“.
Und an Turnierwochenenden der ständige Drang Twitter zu checken.