VDCH-Umfrage: Der soziale Hintergrund der deutschsprachigen Debattierszene
Wie bereits vor einigen Wochen angekündigt worden war, wurden einzelne Personen mit der inhaltsspezifischen Interpretation der Ergebnisse aus der großen Debattierumfrage beauftragt. Über die nächsten Wochen stellt die Achte Minute euch jeweils donnerstags um 14:00 Uhr einen weiteren Teil vor. Diese Woche analysiert Christian Landrock die sozialen Hintergründe der verschiedenen Teilnehmer.
Einen bestehender Konsens in der Debattierszene stellt die Annahme dar, dass das Debattieren die parlamentarische Demokratie stärkt: Die Darlegung überzeugender fachlicher Argumente, das Erlernen geeigneter mündlicher Präsentationsformen derselben, das Hineindenken in eine fremde Position sowie die Wertschätzung des demokratischen, friedlichen Wettstreites. All diese Kernelemente des studentischen Debattiersports sind deckungsgleich mit dem Grundwesen der Demokratie.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Vorteile dieser Sportart hauptsächlich eine gewisse soziale Schicht von Studenten erreichen. Nämlich die Gruppe der sozial privilegierten Studenten, welche aus akademischen Haushalten und/oder wirtschaftlich wohlsituierten Haushalten stammen. Im folgenden werden daher die Gruppe der aktiven Mitglieder (ohne Präsidenten) und Präsidenten der allgemeinen Studentenschaft gegenübergestellt.
Die vom VDCH und der DDG erhobene Umfrage unter den Studenten und Alumni der Debattierszene bestätigt diese Annahme. So haben 71,6% der aktiven Debattierer angegeben, dass mindestens ein Elternteil studiert hat. Von den Präsidenten hat von 65,3% mindestens ein Elternteil eine Hochschule besucht. Im Gegensatz dazu haben in der letzten Sozialerhebung des Studierendenwerks von 2012 60% der Studenten mindestens einen Elternteil mit Hochschulreife. Daraus ergibt sich, dass unter den studentischen Debattierern ein höherer Anteil an Akademikerkindern vorkommt als unter der allgemeinen Studentenschaft, obwohl er auch dort bereits hoch ist.
Dass Debattierer zumeist aus finanziell gesicherten finanziellen Verhältnissen stammen zeigt sich bei der Frage nach der Finanzierung des Studiums. Von den aktiven Mitgliedern gaben nur 15,5% an, dass BaföG zur Bestreitung des Lebensunterhaltes herangezogen wird. Bei den Präsidenten nutzten nur 11,5% BaföG. Im Gegensatz dazu gaben 2012 bei der allgemeinen Umfrage des Studierendenwerks 32% der Studenten an, BaföG-Einkünfte zu beziehen. Studenten aus finanziell schwächeren Familien, die auf BaföG angewiesen sind, kommen im Umkehrschluss weniger vor als bei der normalen Studentenschaft.
Sehr bemerkenswert sind bei den Angaben zur Finanzierung die Menge der Debattierern, die Geld aus einem Stipendium im Gegensatz zur allgemeinen Studentenschaft beziehen: Von den aktiven Mitgliedern haben 21,4% angegeben durch ein Stipendium gefördert zu werden, bei den Präsidenten sind es sogar 25%, was insgesamt 22% in der Gesamtheit unter Debattierern ausmacht. Von der allgemeinen Studentenschaft erhalten dagegen nur 4% ein Stipendium.
Eine Umfrage von 2008 zeigt den Zusammenhang zwischen Stipendienempfängern und sozialem Hintergrund bei den Geförderten der damals elf großen Begabtenförderungswerke des Bundes auf: Demnach hatten 67% aller Stipendiaten mindestens einen Elternteil, welches eine Hochschule besucht hat. Stipendiaten, deren Eltern als höchsten Abschluss eine Lehre oder eine Ausbildung zum Facharbeiter hatten, stellten nur einen Anteil von 3%. Die überproportionale Menge an Stipendiaten unter den Studenten kann somit als Indikator für einen hohen Prozentsatz an Akademikerkindern gewertet werden.
Die Auswertung dieser Zahlen lässt daher folgenden Schluss zu:
Die studentischen Debattierer rekrutieren sich stärker aus Akademikerhaushalten, als die gesamte Studentenschafft, sind finanziell besser situiert und werden überdurchschnittlich für Stipendien ausgewählt.
Diese Feststellung ist meiner Ansicht nach aus drei Gründen bedauerlich:
- Ist es für die betroffenen Arbeiterkinder bedauerlich, denn die besonderen Lerneffekte des Debattierens kommen gerade denjenigen zu wenig zu Gute, die sie besonders gebrauchen könnten. Gerade den Studenten aus nicht-akademischen Elternhäusern fällt es häufig sehr schwer, ihre Interessen gut zu formulieren und durchzusetzen. Sei es im Studium, im Beruf oder politisch. Ihnen fehlt das Rüstzeug.
- Wirkt es sich gesamtgesellschaftlich nachteilig aus, denn das Debattieren verstärkt offenbar die Kluft zwischen gut situierten gesellschaftlichen Schichten und denjenigen, die gerade erst auf dem Weg dorthin sind. Debattieren wird zu einem Betätigungsfeld durch das die Elite die eigene Stellung für die nächste Generation behauptet.
- Gehen dem Debattiersport durch die homogenere Teilnehmerschaft wertvolle und relevante Perspektiven verloren. Wer in einem privilegierten Haushalt aufgewachsen ist, kann Haltungen und Emotionen bei gewissen Themen nur ansatzweise nachvollziehen. Gleichzeitig wird vermutlich die Themenwahl im Debattieren tendenziell eher der westlich-liberalen Einstellung von Akademikern entsprechen. Auf diese Weise werden Debatten implizit als Mittel der Selbstverortung und Abgrenzung nach außen genutzt. Dadurch besteht aber die Gefahr, dass Debattieren zu einem selbstreferentiellen akademischen Schlagabtausch verkommt, zu dem Teile der Bevölkerung keinen Bezug haben. Das deutschsprachige Debattieren war sich immer seiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst und versucht mit Show- und Finaldebatten als Impulsgeber und Vorbild in die deutsche Gesellschaft hineinzuwirken. Mit einer lebensweltlichen Abkapselung von Bevölkerungsgruppen läuft Debattieren Gefahr als Missionar nur noch vor Glaubensbrüdern zu predigen.
Es kann allerdings mehrere Gründe für den hohen Anteil an sozial privilegierten Studenten im Debattiersport im Vergleich zu der allgemeinen Studentenschaft geben.
1. Finanzielle Mittel
Debattieren ist ein teures und zeitaufwendiges Hobby, wenn es denn intensiv betrieben wird. Turnierteilnahmen, Reisekosten, Socials sowohl auf nationaler und insbesondere auf internationaler Ebene gehen schnell ins Geld. Daneben sind Workshops und Trainings zeitraubend. Kinder aus nicht-akademischen Familien haben hier begrenztere Ressourcen als Debattierer aus sozial privilegierten Haushalten, da sie häufiger für ihr Studium arbeiten müssen.
2. Sozialer Druck
Studenten, die als erste in ihrer Familie eine Hochschule besuchen, stehen unter einem Erwartungsdruck von Seiten der Eltern. Die Eltern kennen sich nicht auf dem Terrain der Hochschule aus und üben häufig Druck für ein schnelles Studium mit guten Ergebnissen aus. Das Studium interpretieren die Eltern als ein Pendant zu einer normalen Ausbildung, die zu absolvieren ist, um einen Beruf ausüben zu können. Das Bild eines Studiums als eine Experimentierphase im Leben, in dem Möglichkeiten und Neigungen ausgetestet werden und Scheitern kein Problem darstellt, liegt da eher fern. Hobbys an der Hochschule, die viel Aufwand erfordern, haben einen schweren Stand, da die Eltern und durch sie indirekt auch der betroffene Student dies als Gefahr für die schnelle Ausbildung an der Schule ansehen.
3. Debattieren – die fremde Welt
Für Arbeiterkinder bedeutet der Eintritt in das Hochschulleben den Eintritt in eine fremde Welt. Die Vermittlung des Studentenlebens durch den Kontakt mit Familienmitgliedern, die eine Hochschule besucht haben, fällt weg. Die Gepflogenheiten, das Auftreten und die Abläufe stellen eine neue Welt, in der die Ratschläge nicht viel helfen. Debattieren als typisch studentischer Sport kann hier eine Faszination auslösen, doch stiftet dieses neue Hobby in der Heimat vor allem Irritationen. In vielen nicht-akademischen Familien genießt harte körperliche Arbeit – ob acht Stunden am Band oder auf der Baustelle – einen hohen Stellenwert. Wissenschaftliches Arbeiten ist jedoch viel schwerer nachvollziehbarer und steht meistens im Verdacht, leichter bewältigbar zu sein. Debattieren als ein Sport, wo nur „herumpalavert“ und kein praktischer direkter Nutzen erkennbar ist, erscheint dabei noch seltsamer.
4. Geringe Werbung bei Studiengängen mit einem hohen Anteil an Arbeiterkindern
Bei der Erhebung des VDCH und der DDG kam heraus, dass unter den Studiengängen, welche von den Debattierern belegt werden, die Natur- und die Ingenieurswissenschaften hintere Ränge belegen. Daraus kann gefolgert werden, dass die Anstrengungen zur Werbung bei den Studenten dieser Fachgebiete möglicherweise nicht so intensiv sind – oder sie sich nur langsamer begeistern lassen. In diesen Fachgebieten studieren jedoch die meisten Arbeiterkinder, da angenommen wird, dass diese Studienfächer als der sicherste Weg zu einem guten und festen Einkommen gelten. Ähnliches gilt für Fachhochschulen, wo Debattierclubs weniger vertreten sind.
5. Schwerer Start am Beginn
Kinder aus Akademikerhaushalten haben den Vorteil, dass sie durch ihre Erziehung und ihre vom Elternhaus vermittelte Bildung sich schneller im Debattiersport einfinden können. Wenn die Eltern einen hohen Bildungsgrad aufweisen und zu Berufszwecken mit Präsentationen oder öffentlicher Rede zu tun haben (bspw. Lehrer, Politiker, Pfarrer, Wissenschaftler, Juristen) dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie dies an ihre Nachkommen vermittelt haben. Debattierneulinge ohne akademische Prägung haben somit am Beginn Schwierigkeiten und laufen Gefahr nach anfänglichen Misserfolgen entmutigt zu sein.
6. Gleich und gleich gesellt sich gern
Menschen haben das Bedürfnis in Gruppen einzutreten, wo Wertvorstellungen und Lebensmodelle den eigenen ähneln. Personen mit anderem Hintergrund haben es schwer sich in diese Gruppen zu integrieren, da sie mit deren Vorstellungen und Habitus nicht übereinstimmen. Zu diesen gehören Ausdrucksweise, Kleidung, Auftreten, der Verzicht auf Dialekt, Interesse an bestimmten Themen, politische Einstellung und Ernährungsverhalten. So hätte wahrscheinlich ein bayerischer Bauernsohn, der Mitglied bei der Jungen Union ist, Probleme sich bei einem norddeutschen Debattierclub zu integrieren, wo ein Gros der Mitglieder politisch links steht, vegan lebt und auf eine gendergerechte Sprache achtet. Zwar grenzen Debattierer Neulinge nicht bewusst aus, doch auch durch subtile Signale, durch ein unbewusstes Verhalten, aber auch offen durch Belehren und andere Unmutsbekundungen kann ein Umfeld auf Einzelne abweisend wirken.
Nun kann natürlich nicht jeder Student mit nicht-akademischem Hintergrund zu seinem Glück gezwungen werden und nicht jeder will/kann aktives Mitglied in einem Debattierclub werden. Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich und kann trotz gewisser Hürden ein aktives und akzeptiertes Mitglied in einem Debattierclub werden, u.a. in dem man Teile seiner alten Persönlichkeit nicht mehr zeigt und sich anpasst.
Ich sehe aber dennoch Möglichkeiten, um den Anteil und das Engagement von Studenten aus nicht-akademischen Familien zu erhöhen und werbe dafür, diese aus den eingangs erwähnten Gründen stärker zu nutzen.
1. Finanzielle Unterstützung
Hier bestände die Möglichkeit, dass der VDCH bzw. die einzelnen Clubs ein gewisses Budget pro Saison dafür verwenden, Geld an Debattierer mit einer schwächeren finanziellen Situation für Turnierteilnahmen weiterzuleiten. Durch diese Unterstützung könnten Debattierer einen Teil der Reise- und Teilnahmekosten finanzieren und könnten dadurch ermutigt werden auf Turniere zu fahren.
2. Kooperation mit ArbeiterKind.de
ArbeiterKind.de ist eine Organisation zur Unterstützung von Studenten, die als erste in ihrer Familie studieren. Es werden kostenlose Informationen und Beratung zu BaföG, Stipendien und zu anderen Belangen des Studiums angeboten. Daneben versucht ArbeiterKind.de Schüler aus nicht-akademischen Familien zum Studium zu ermutigen, wenn Neigung und Talent vorhanden sind.
Hier wäre es überlegenswert, ob der VDCH bzw. die einzelnen Clubs vor Ort mit der jeweiligen Organisation eine Zusammenarbeit eingehen. So könnten Debattierclubs Rhetorikseminare a’la „Wie halte ich ein Referat im Uni-Seminar“ geben und so die Arbeit der Organisation vor Ort unterstützen. Im Gegensatz dazu hätten Debattierclubs Zugriff auf einen neuen Kreis von potentiellen Neu-Mitgliedern.
3. Ein neues Narrativ zur Werbung
Debattierclubs sind an sich eine großartige Manifestation des universitären Lebens und eine gute Anlaufstelle für Arbeiterkinder: Im Idealfall treffen Studenten aus verschiedenen Fachrichtungen zusammen, unternehmen etwas zusammen und freunden sich an. Zudem ballt sich hier das kulturelle und institutionelle Wissen über den Hochschulkosmos: Im ungezwungenen Rahmen kann hier ein Erfahrungsaustausch über Fachgrenzen, Altersgrenzen und Erfahrungsräume hinweg stattfinden. Erstsemester können von den erfahreneren Mitgliedern problemlos Informationen hinsichtlich Stipendien, Studienverfahren usw. erlangen.
Bei der Werbung von Erstsemestern sollte diese soziale und nützliche Komponente betont werden, frei nach dem Motto: „Ihr bekommt bei uns das komplette Studiumspaket und wir bieten euch Orientierung im Hochschuldschungel.“ Kinder aus nicht-akademischen Familien interessiert es weniger, dass die Möglichkeit besteht bei der WUDC am anderen Ende der Welt gegen Leute aus Oxford auf Englisch zu debattieren, sondern sie suchen nach Orientierung.
4. Sensibles Vorgehen bei der Mitgliederwerbung
Gleichfalls sollten Clubs bei der Mitgliederwerbung mehr darauf achten, dass sich die Teilnehmer wohlfühlen. Jede Person kann den Club bereichern, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint: So ist vielleicht der Malersohn ein aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr in seiner Heimat gewesen und kennt sich mit Verpflegung aus, da er zuhause bei Walpurgisfeuern den Ausschank gemacht hat.
Hier wäre es von Vorteil, wenn im Club eine Person mit hoher sozialer Kompetenz als Ansprechpartner für die Neulinge fungiert. Weiterhin sollte am Beginn der Anfängerschulung der Schwerpunkt auf die Freude an der Debatte an sich gelegt werden und weniger Wert auf den kompetitiven Charakter und auf die Feinheiten der Struktur.
Diese Überlegungen wären ein erster Ansatz, um zu versuchen, dass der Anteil von Kindern, die als erste in ihrer Familie studieren einen Zugang zum Debattiersport findet und dass dadurch die Szene diverser wird. Wenn der Großteil der aktiven Debattierer nur einem Milieu stammt, dann entsteht die Gefahr, dass die Szene zu einem Elfenbeinturm verkommt.
Christian Landrock/lok.
Christian Landrock – selbst Arbeiterkind – studierte Geschichte und Kommunikationswissenschaften in Jena und Magdeburg. Er debattierte im Debattierclub Magdeburg e.V. und bei der Dresden Debating Union e.V. In Magdeburg war Christian Vizepräsident und Präsident des Debattierclubs und beteiligte sich an der Organisation mehrerer Debattierturniere. Derzeit promoviert er im Fach Geschichte.
Lieber Christian, an einigen Stellen deines Artikels hat es mich offen gestanden ein wenig geschüttelt. Grundsätzlich ist ja das meiste von dem was du schreibst löblich, richtig und sicherlich gut gemeint. Aber auch wenn du dich selbst als „Arbeiterkind“ titulierst, macht dich das nicht narrenfrei.
„Arbeiterkindern fehlt das Rüstzeug.“ Erstmal möchte ich mich gegen diese Verallgemeinerung und absolute Darstellung wehren. „Möglicherweise fehlt einigen Arbeiterkindern das nötige Rüstzeug.“ wäre hier eine zumindest etwas verträglichere Aussage.
„In vielen nicht-akademischen Familien genießt harte körperliche Arbeit – ob acht Stunden am Band oder auf der Baustelle – einen hohen Stellenwert. […] Debattieren als ein Sport, wo nur “herumpalavert” und kein praktischer direkter Nutzen erkennbar ist, erscheint dabei noch seltsamer.“ Aha. Eltern, die nicht studiert haben sind also zu dumm um zu verstehen, was Kommunikationskompetenz ist?
Solche Passagen tauchen immer wieder auf, die bei mir Unbehagen auslösen. Ein wenig mehr Sensibilität diesbezüglich hätte ich mir gewünscht.
Weiterhin: Ich hatte das bei ähnlichen Analysen schon immer mal angemerkt, aber bisher hat sich die Mühe noch niemand gemacht: Ist die Gesamtzahl aller Studierenden eine gute Benchmark? Erstens sind die Abweichungen der Arbeiterkinder zwischen der Debattierszene und der gesamten Studierendenschaft nicht gerade gigantisch. Zweitens weiß jemand wie es beispielsweise in anderen Hochschulgruppen aussieht? Volleyball, Fechten, Fußball, Schach? Möglicherweise nehmen wir eine Spitzenposition ein? Außerdem gibst du an, dass viele „Neuakademiker“ sich im Natur- und Ingenieurswissenschaften tummeln, wo die Debattierszene schwächer vertreten ist. Hast du dazu Zahlen? Möglicherweise reicht diese Tatsache aus um die Abweichung zu erklären oder, was ja sehr interessant wäre, sogar ins Gegenteil zu verkehren! Möglicherweise sind aus den viel vertretenen Studiengängen sogar mehr Arbeiterkinder in der Debattierszene, als der Anteil der Arbeiterkinder in diesen Studienfächern in der gesamten Gesellschaft! Das würde deine komplette Analyse zunichte machen, aber geprüft wurde es anscheinend nicht.
Dann bliebe als Tatsache nur noch übrig: Wir sind in einigen Studienfächern eher vertreten als in anderen. Ja und? Wen wundert’s? Ich schätze, dass die Volleyballmannschaften der Universitäten auch mehr Sportstudenten als Informatiker haben. Na und? Wo ist das Problem?
Noch etwas: Wir haben einen geringeren Anteil an Bafög-Empfängern als die gesamte Studierendenschaft, aber einen bedeutend höheren Stipendiatenanteil. Viele Stipendien schließen aber den Empfang von Bafög aus! Möglicherweise ist der finanzielle Faktor also geringer als gedacht, und wir haben halt einfach ne Menge verflucht kluger Köpfe in der Szene. Und auch hier: Ist die gesamte Studierendenschaft die beste Benchmark? Ich schätze wir haben mehr Teilnehmer aus „sozial schwächeren Schichten“ als beispielsweise die Rudermannschaften.
Generelle Anmerkung: Ja man kann im Debattieren was lernen, was sinnvoll ist. Aber wir sind keine Heilsbringer, ohne deren Wissen und Training die armen Unwissenden untergehen werden, sondern Debattieren ist ein Hobby was einigen zusagt, anderen weniger und gleichzeitig nicht völlig sinnlos ist, sondern positive Bildungseffekte hat. Das gilt aber auch für viele andere Hobbys und ein Selbstverständnis welches besagt wir müssen unbedingt möglichst viele Menschen für ihr eigenes Wohl (statt für das der Szene, die ich mir auch groß und vielfältig wünsche) zum Debattieren bringen ist meiner Meinung nach ein unpassend arrogantes.
Werter Peter,
habe vielen herzlichen Dank für deine Anmerkungen, hier die Entgegnung:
Verallgemeinerung gewisser sozialer Schichten:
Hier versuche ich entsprechende Erfahrungen von mir und anderen Arbeiterkindern bzgl. ihrer Erfahrungen mit dem Debattiersport und die Reaktionen darauf darzulegen. Die Eltern von Arbeiterkindern kennen das Milieu der Universität nicht und kennen das Wertesystem, das in diesem „Uni-Versum“ vorherrscht, nicht. Ich würde nie behaupten, dass Arbeiter zu dumm sind, um kommunikative Kompetenz wertzuschätzen, es geht hier um eine andere Gewichtung in diesen Milieus. Sicherheit ist hier mehr als relevant.
Zur Vergleichbarkeit mit der allgemeinen Studentenschaft:
Absolut, der Erkenntnisgewinn solcher Studien würde enorm gesteigert werden, wenn Vergleichsergebnisse anderer Organisationen vorhanden sind! Leider habe ich da wenig gefunden. Der Verband, der die UNO-Simulationen im deutschsprachigen Raum organisiert, habe ich in der Sache inoffiziell angefragt, aber die hatten da keine Untersuchung durchgeführt.
Arbeiterkinder in Ingenieurstudiengängen:
Hier habe ich mich an folgenden Artikel orientiert: http://www.zeit.de/campus/2009/06/ingenieure-aufsteiger
Bei der VDCH-Erhebung wurde die Herkunft der Debattierer nicht in konkreten Bezug zum Studienfach erhoben, ich konnte also nur mit den bekannten Daten arbeiten.
Zu deiner grundsätzlichen Annahme:
Natürlich kann die Welt nicht am Debattierwesen genesen. Allerdings glaube ich, dass Debattieren ein Sport darstellt, der sowohl für das Individuum wie auch für die Gesellschaft ungemein hilfreich sein kann. Wenn jemand Debattieren will, dann sollte dieser jemand auch gefördert werden. Wenn jemand das nicht will, dann sollte man ihn auch nicht dazu zwingen.
Besonders Arbeiterkinder könnten durch das Wissen der anderen Debattierer über die Universität profitieren. Allerdings scheint es derzeit Faktoren dafür zu geben, dass Arbeiterkinder höhere Hürden haben Teil der Debattierszene zu werden und das ist sehr bedauerlich.
Lieber Peter,
ich glaube, über ein paar Dinge müssen wir reden:
Erstens stellst du die These auf, dass ein wesentlich geringerer Anteil an BaFöG-Empfängern (11,5 % vs. 32 % !) nicht bedeutet, dass die Debattierenden finanziell besser aufgestellt sind als durchschnittliche Studierende, weil viele Stipendien den Bezug von BaFöG-Leistungen ausschließen. Bitte beachte, dass Christian eine entsprechende Studie aufgeführt hat, die zu dem Ergebnis kommt, dass die Bezieher von Stipendien mit überwältigender Mehrheit Akademikerkinder sind (und damit in der Tendenz auch finanziell besser aufgestellt als Arbeiterkinder). Wenn du jetzt also behaupten möchtest, dass das bei Debattierenden anders aussieht – dass also der Anteil der Arbeiterkinder und der finanziell schlechter aufgestellten Personen, die Stipendien beziehen, unter Debattierenden auf einmal wesentlich höher ist – dann würde ich mir schon wünschen, dass du mir diese Behauptung irgendwie begründest. Ich halte das nämlich für sehr unwahrscheinlich.
Du meinst außerdem, eine solche Homogenität in unseren Reihen sei gar nicht so schlimm, weil viele Sportstudenten in ihrer Freizeit Volleyball in der genauso homogenen Universitätsmannschaft spielen. Aha. Zunächst einmal wird ein zu beklagender Umstand nicht dadurch besser, dass andere ebenfalls darunter leiden. Und zweitens verkennst du auch, warum Homogenität sich gerade auf eine Debattierszene besonders negativ auswirkt: Es gehen Perspektiven, Relevanz und Akzeptanz für uns verloren (das hat ja auch Christian darzulegen versucht und ich habe in meinem Posting unten dazu ergänzt). Wenn dir das egal ist, weil Debattieren in deinen Augen nur ein nettes Hobby ohne wirklichen Anspruch (vor allem ohne den Anspruch, dass gesitteter Streit gesamtgesellschaftlich relevant sein sollte) ist, dann unterscheiden sich unsere Auffassungen darüber aber wohl einfach zu sehr.
Deniz, mit Verlaub, das ist ja nun totaler Unfug.
Zu Bafög und Stipendien eine einfache Antwort: Nein. Ich stelle gerade keine These auf sondern versuche dahingehend zu sensibilisieren, dass sich aus den Daten die von Christian abgeleiteten Thesen nicht zwangsläufig ergeben. Meine Kritik an dieser und auch an anderen Stellen vorher zu ähnlichen Sachlagen lautet immer: Ihr könnt solche Thesen nicht sicher aus den Daten aufstellen, bitte relativiert sie dementsprechend. Für die Debattanten: Nutzt Qualifier (Toulmin)! Nie habe ich aber gesagt, was du da schreibst! Ganz im Gegenteil, ich zitieren mich selbst: „Möglicherweise ist der finanzielle Faktor also geringer als gedacht…“ Das ist nicht Anderes als der Hinweiß auf eine möglicherweise notwendige Relativierung von Christians These. Ganz sicher ist es nicht die Aussage: „Die aufgestellte These ist falsch und das Gegenteil richtig“, so wie du es mir hier in den Mund legst. Ich sage nur es könnte sein, dass die Daten sich aus einem anderen Grund so darstellen wie sie es tun, als hier angenommen wird. Beispielsweise, dass Debattanten einfach überdurchschnittlich oft kluge Köpfe sind oder dass Menschen, die der Rhetorik zugeneigt sind, sich besser in Bewerbungsgesprächen um Stipendien anstellen und gleichzeitig auch eher von Debattierclubs angezogen werden. Ich stelle aber nicht die These auf, dass diese Ideen wahr sind oder dass sie sich aus irgendwelchen mir verfügbaren Daten ableiten!
Es geht weiter mit der Homogenität: „Zunächst einmal wird ein zu beklagender Umstand nicht dadurch besser, dass andere ebenfalls darunter leiden.“ Soweit ist der Satz völlig korrekt, aber leider nur ohne den Kontext in den du ihn stellst. Warum um alles in der Welt ist es denn ein „beklagenswerter Zustand“, dass nicht alle Informatiker Volleyball spielen? Warum sollte es ein beklagenswerter Zustand sein, dass nicht alle Menschen debattieren? Für die Menschen wohl gemerkt, nicht für die Szene, das habe ich bereits oben differenziert! Ich bin ebenso, wie hoffentlich die meisten anderen, für eine sehr diverse Debattiergesellschaft um den Diskurs möglichst reichhaltig führen zu können. Aber es ist mir noch nie passiert, dass ich die „armen Nicht-Debattanten“, welche sich für andere Dinge interessieren beklagt oder bemitleidet hätte. Disclaimer an dieser Stelle: Ich bin immer und absolut in höchstem Maße für Barrierenabbau. Jeder sollte, so gut es uns als Szene irgendwie gelingt, die Möglichkeit haben daran teilzuhaben! Wenn solche Barrieren gefunden werden müssen sie bereinigt werden. Wenn wir feststellen sollte, dass es eine große Zahl an Menschen gibt, die gerne debattieren wollen, aber strukturell daran gehindert werden müssen wir aktiv werden, sofern es in unserer Macht liegt. Darüber kann aber dieser Artikel überhaupt keine Aussage treffen.
Zuletzt: „Wenn dir das egal ist, weil Debattieren in deinen Augen nur ein nettes Hobby ohne wirklichen Anspruch (vor allem ohne den Anspruch, dass gesitteter Streit gesamtgesellschaftlich relevant sein sollte) ist, dann unterscheiden sich unsere Auffassungen darüber aber wohl einfach zu sehr.“ Nun, wenn deine Meinung über unser Hobby ist, dass wir die Gesellschaft in der wir leben durch das Veranstalten von Debattierturnieren und Clubabenden maßgeblich prägen und zum positiven verändern – dann hast du Recht, unsere Ansichten unterscheiden sich ganz offensichtlich. Wenn deine Meinung aber zusätzlich sein sollte, dass es notwendig ist Menschen zum Debattieren zu bringen, weil nur so aus ihnen bessere Menschen werden, dann mache ich mir Sorgen.
@Christian: Es wäre beispielsweise möglich, sofern Daten vorhanden sind, zu schauen, wie sich der Arbeiterkinderanteil in der gesamten Studierendenschaft für die einzelnen Studiengänge abbildet . Dann kann man errechnen, wie er für eine Gruppe, welche sich in gleichen Teilen wie die Debattierszene aus den verschiedenen Studiengängen zusammensetzt, aussieht und als Vergleichsgröße heranziehen. Das macht die Daten schon einmal deutlich vergleichbarer. Möglicherweise stärkt das deine Thesen total, möglicherweise passiert das Gegenteil.
Lieber Peter,
gut, dass wir das geklärt haben. Es beruhigt mich sehr, dass auch du nicht daran glaubst, an der These könnte wirklich etwas dran sein. Ich weiß darüber hinaus aus ehrlich gesagt überhaupt nicht, wo du herausgelesen hast, dass die Menschen da draußen arme Irre sein sollten, denen man das Debattieren beibringen müsste um aus ihnen bessere Menschen zu machen. Ich glaube nicht, dass irgendwer tatsächlich diesen Punkt machen wollte.
Und ich erlaube mir durchaus, daran zu glauben, dass die Debatte (nicht irgendwelche einzelne Clubabende, Socials, Turniere o.ä. – sondern die Idee dahinter) gesamtgesellschaftlich relevant ist. Und ich weiß wirklich nicht, woher du hier gleich nochmal den Gedanken nimmst, irgendwer von uns wäre zum Debattier-Missionar geworden. Es geht hier lediglich darum, eine bei „uns“ unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppe auszumachen, den daraus entstehenden Schaden zu schildern und sich zu überlegen, was man dagegen tun kann.
Lieber Christian,
ein schöner Beitrag. Auch für mich war es sehr hilfreich, meine – sagen wir: vage – Vermutung darüber, aus welchen sozio-ökonomischen Schichten sich unsere Debattierlandschaft zusammensetzt, durch Zahlen bestätigt zu sehen. Ich würde an dieser Stelle davon ausgehen (und halte es für wichtig, dazuzusagen), dass eine Dunkelfeldstudie (es haben ja nicht alle an der Umfrage teilgenommen) nichts an dem Schluss ändern würde, den du ziehst – zumindest sehe ich keinerlei Anhaltspunkte dafür. Bis hierhin also völlige Zustimmung.
Die drei Gründe, aus denen du diese recht homogene Zusammensetzung bedauerst, unterschreibe ich ebenfalls zum Teil. Ich glaube aber nicht, dass es StudentInnen aus nicht-akademischen Elternhäusern aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Herkunft prinzipiell schwerer fällt, ihre Interessen gut zu formulieren und durchzusetzen. Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, die dich zu diesem Schluss kommen lassen? Und über welche Art von Interessen reden wir hier überhaupt? Ich jedenfalls halte den studierenden Sohn eines Maurers jedenfalls für gleichsam dazu begabt wie den Sohn eines Juristen. Ob er die Gelegenheit dazu ergreift, sich darin zu üben und auszuprobieren, ist natürlich ein ganz anderes Thema – das du, wie ich finde, auch im Folgenden gut bearbeitest. Die viel größeren Probleme sehe auch ich darin, dass das Debattieren gesamtgesellschaftlich betrachtet dadurch ganz stark an Relevanz und Akzeptanz einbüßt. Anknüpfend an das, was du bereits als Schaden im Innen- (das Verlorengehen von wertvollen und relevanten Perspektiven) und im Außen-Verhältnis (der Bezugsverlust zum potenziellen Publikum) richtig beschreibst, würde ich noch hinzufügen: Diese Form von Homogenität, gepaart mit der daraus entstehenden Abkapselung nach Außen, erweckt vor allem auch den Eindruck, es handele sich beim Hochschuldebattieren in seiner jetzigen Form um eine zutiefst scheinheilige Veranstaltung: Man präsentiert sich nach außen hin als Hort des gesitteten Aufeinanderprallens verschiedener Meinungen und Perspektiven, während man im Privaten (also zum Beispiel innerhalb des eigenen Vereins) mit einem solchen Aufeinanderprallen nicht umzugehen weiß und es daher bewusst oder unbewusst unterbindet. Die Versuche in der jüngeren Vergangenheit, den Verband als Instrument zu benutzen, um seinen Mitgliedern die „richtige“ Lebens- oder Ernährungsweise „beizubringen“, sprechen in meinen Augen Bände darüber.
So viel also zur Bestandsaufnahme, jetzt wollen wir die Probleme aber wirklich mal lösen! Als Erstakademiker und Präsident unseres Vereins bin ich, was den Wunsch nach finanzieller Unterstützung angeht, absolut bei dir. Wir unterstützen von Seiten des Clubs bereits seit langem unsere Mitglieder dahingehend, dass wir die Turnierfahrten etwas bezahlbarer machen und ich weiß aus Erfahrung, dass es für viele Mitglieder ein gewaltiger Unterschied sein kann, ob sie für eine Turnierteilnahme 60, 40, 30 oder 20 Euro bezahlen müssen. Rechnet man das auf einige Turniere im Jahr hoch, bemerkt man schnell, dass auch nur halbwegs regelmäßige Turnierfahrten für StudentInnen, die auf BaFöG angewiesen sind, ohne Bezuschussung von außen schlicht und ergreifend nicht machbar sind. Auch die Clubs stoßen hier aber irgendwann an Grenzen – gerade die kleineren. Sollte sich der VDCH als Dachverband also wünschen, offener, diverser, inklusiver – you name it – zu werden, dann muss er diesem Wunsch meiner Meinung nach auch Taten folgen lassen. Eine Bezuschussung der TN-Beiträge (vor allem der höheren Beiträge wie bei ZEIT Debatten und der DDM) finanziell weniger stark aufgestellter DebattiererInnen – beantragt durch die Vereine – halte ich hier für wichtig und angebracht. Die finanziellen Ressourcen des VDCH sind (leider) ebenfalls begrenzt. Folgerichtig müssten wir uns also diese Frage stellen: Welche Projekte des VDCH sind so wichtig und funktionieren so gut, dass die Unterstützung benachteiligter DebattiererInnen (verbunden mit der Einbindung von neuen DebattiererInnen mit unterschiedlichen sozio-ökonomischen Hintergründen) hinter ihnen zurückstehen muss? Ich freue mich bereits auf die Antworten darauf. In diesem Sinne: Lasst die Umverteilungsdebatte beginnen!
Glück auf!
Deniz
Hi Deniz,
bezüglich der Interessensdurchsetzung:
Selbstverständlich kann der Sohn eines Maurers die gleiche oder eine höhere Begabung als ein Ärztesohn aufweisen. Da bin ich ganz bei dir. Ich gehe aber davon aus, dass ein Ärztesohn durch „die feinen Unterschiede“ (ich bin ein Anhänger von Bourdieu) bevorteilt wird, da dieser dank einer Umwelt, die Bildung stark begünstigt und gewisse Verhaltensweisen ausgeprägt, einen Vorteil bei einer akademischen Karrieren haben wird. Dies geht damit schon los, dass ein Ärztesohn in seiner Verwandtschaft klare Vorbilder denen er auf diesem Feld nacheifern kann und um Rat fragen kann.
Selbstverständlich kann ein Ärztesohn aber auch verzogen und dumm sein und der Maurersohn kann eines disziplinierten und gewissenhaften Vorgehen die Akademikerkinder überflügeln.
Lieber Christian,
so lese ich deinen Beitrag ja auch. Ich glaube nur, dass eine solche Klarstellung vielleicht auch noch darin Platz gefunden hätte. Sonst entsteht am Ende vielleicht wirklich der falsche Eindruck, es ginge hier um die Begabung selbst und nicht um die äußeren Umstände, die es dem einen leichter machen, seinen Begabungen nachzugehen.
Hier ist eine weitere interessante (englischsprachige) Perspektive zu diesem Thema, die zumindest meinen Horizont erweitert hat: https://www.facebook.com/notes/rebecca-montacute/first-generation-university-students-in-debating/102213636899366
Da möchte ich ja fast meine nichtstudierten Eltern in Schutz nehmen, die „trotz 8h harter Arbeit“ ganz gut verstehen, warum ich das mache und mich sogar gefördert haben. Bloß weil ich Erstakademikerin bin, muss ich nicht „zu meinem Glück gezwungen“ werden oder vor „linkspolitischen, veganen und gendergerechten Menschen geschützt“ werden. Btw. bekomme ich nicht mal BaföG, aber das ist was anderes. Vielleicht sollte man von solchen Pauschalaussagen Abstand nehmen.
Liebe Sabrina,
es ist schön, dass das in deinem Fall so ist, wie es ist. Ich glaube aber, dass durch Einschübe wie „in vielen Fällen“, „oft“ usw. usf. schon deutlich wird, worum es hier geht. Ich lese aus dem Artikel Überspitzungen und Vereinfachungen heraus, aber eigentlich keine Pauschalaussagen. Und nach einem ersten reality check kann ich vieles, was im Artikel aufgeführt wird, durchaus für mich und die Menschen in meinem Umfeld bestätigen. Würdest du BaFöG-Leistungen beziehen, die mehr oder weniger an einen Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit gekoppelt sind, dann würde sich deine Kalkulation unter Umständen auch verändern. Und die deiner Eltern vielleicht auch.
Anstatt darüber zu streiten, wie viele Menschen die Problemdiagnose jetzt schändlich beleidigt hat, könnten wir auch einfach dazu übergehen, uns zu überlegen, ob sie am Ende richtig gestellt ist oder nicht. Dann ist es auch möglich, darauf zu reagieren. Mit Diskussionen über die Wortwahl hier kann leider kein weiteres Arbeiterkind den TN-Beitrag für sein zweites oder drittes Turnier der Saison bezahlen.
Aber Du hast doch sicher ein Stipendium, liebe Sabrina? Das ist NOCH schlimmer als aus einem Akademikerhaushalt entsprungen zu sein. Du solltest unbedingt sofort drei weitere unterprivilegierte – ach, was rede ich – abgehängte nicht-veganer Arbeiterkinder von der Straße in den Debattierclub zerren, sie gleichsam von selbiger retten, möchte ich sagen. Nur dann kannst Du noch Erlösung finden.
Sehr sehr guter Artikel, den wir uns stark zu Herzen nehmen sollten! Ich würde mir eine ähnlich gute Analyse inklusive Verbesserungsvorschlägen zum niedrigen Frauen- und Minderheitenanteil im deutschsprachigen Debattieren wünschen. Wird das noch kommen?
Normalerweise bin ich kein Fan von Autoritätsargumenten und halte mich von diesen fern. In diesem Fall kann ich einfach nicht anders. Das Beispiel des Kind eines Maurers kam ja bereits auf und zufälligerweise trifft genau das auf mich zu. Mein Vater ist Maurermeister, denkt aber trotzdem nicht, dass ich lieber 8 Stunden am Tag auf dem Bau stehen sollte und ich bekomme auch nicht mehr Druck als andere, in Regelstudienzeit fertig zu werden oder „lästige“ Hobbies aufzugeben. Ich bezweifle deine Annahme in Punkt 2 dass Nicht-Akademiker*innen andere Prioritäten hätten oder mehr Druck ausüben würden. Im Gegenteil: Ich weiß dass meine Eltern sehr gerne die Möglichkeit gehabt hätten zu studieren und sich jetzt umso mehr freuen, dass sie mir das ermöglichen können. So geht es denke ich einigen Eltern, die ihren Kindern die Welt geben wollen und eben nicht bloß auf Effizienz bestehen, wie du es darstellst.
Außerdem nimmst du an, dass Kinder von Akademikern einen Vorteil an der Uni hätten und Kinder ohne studierte Eltern von einem Vortrag „Wie halte ich ein Referat im Uni-Seminar“ benötigen würde. Soweit bin ich einverstanden. Ich frage aber: Warum die anderen nicht auch? Ich sehe in meinem Umfeld keinen Unterschied zwischen den Studierenden aus Akademiker- und Arbeiterhaushalten in ihren Studienleistungen. Ja, wenn mein Vater statt Maurer Verfassungsrichter wäre, dann hätte ich wohl echt einen Vorteil, weil ich dann andere Verbindungen hätte und wohl echt anders sozialisiert worden wäre. Bei dem Großteil der Akademiker*innen sehe ich das allerdings nicht. Auch können diese ihren Kindern bei weitem nicht so viel mitgeben wie es hier anklingt. Universität verändert sich eben auch und ein Magisterstudiengang hat mit dem Bachelor wirklich wenig zu tun. Ich sehe das regelmäßig auf der Arbeit (ich arbeite in der Studierendenadministration – noch ein Autoritätsargument ) wenn sich alte Menschen noch einmal einschreiben wollen und keine Ahnung haben wie das funktioniert. Immatrikulation, Exmatrikulation, Prüfungsordnung, Bescheid, Bescheinigung – das sind für alle abstrakte Begriffe, nicht nur für Nicht-Akademiker.
Auch unter Punkt 3 widerspreche ich deiner Prämisse: Du sagst der Debattiersport stehe „meistens im Verdacht, leichter bewältigbar zu sein“. Natürlich verstehen Angehörige häufig nicht, was man macht; der Respekt fehlt aber dennoch nicht. Harte Arbeit wird geschätzt, das heißt aber nicht dass geistige Arbeit dem unterstellt wird. Man braucht eben beides, und ich denke dieses Bewusstsein hat auch jede*r – egal ob Akademiker*in oder nicht.
An einigen Stellen habe ich als Arbeiterkind mich beim Lesen deiner Analyse fast persönlich angegriffen gefühlt. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, beim Schreiben etwas sensibler vorzugehen.
In Ermangelung einer Like-Funktion: Meine volle Zustimmung zu den bisherigen Kommentaren von Peter und Sabrina.
Werte Anna,
werte Sabrina,
habt vielen Dank für eure Einblicke. Ich freue mich sehr für euch, dass ihr keine Probleme an der Universität habt und die volle Unterstützung eurer Eltern euch sicher ist. Die VDCH-Erhebung behauptet auch nicht, dass Arbeiterkinder bzw. Kinder aus nicht akademischen Haushalten kategorisch vom Debattiersport ausgeschlossen sind. Allerdings sind Einzelfälle nicht repräsentiv, in jeder Familie kann es anders sein und in der Studie wird diese Tendenz sichtbar. Im Verlauf meiner Recherche für den Artikel habe ich mit Arbeiterkindern aus der Debattierszene gesprochen und die haben mir andere Eindrücke als eure geschildert. So hat mir bspw. eine Person aus der Szene erzählt, dass sie ihren Dialekt unterdrückt hat und ein ihr wichtiges Thema nicht mehr zur Sprache gebracht hat, wenn Debattierer anwesend waren, weil diese ihre Haltung zu dem Thema partout nicht ernst genommen haben.
Hinsichtlich der wahrgenommenen Beleidigung: Tut mir Leid, wenn ihr euch beleidigt fühlt. Dieser Artikel sollte das Problem darstellen und dazu gehört auch Zuspitzung und Thesenbildung. Noch einmal zur Richtigstellung: Mit diesem Artikel möchte ich keine Nichtakademiker schmähen oder herabsetzen. Ich sehe einen Uni-Professor und einen Handwerker als gleichwertig und gleichermaßen wichtig für unsere Gesellschaft an. Es gibt auch sehr viele hochintelligente und gebildete Handwerker, das bestreite ich nicht. Trotzdem haben Menschen jeweils verschiedene Talente.
Ich glaube aber auch, dass alle Menschen die gleichen Chancen in Deutschland auf Bildung besitzen sollten, wenn ein Handwerkersohn Kunstgeschichte studieren kann und will, dann soll er es auch machen. Allerdings gibt es viele Hürden für derartige Karrieren, von denen ein Teil sich aus dem Elternhaus heraus begründet. Deshalb finde ich die Unterstützung solcher Arbeiterkinder (als Sammelbegriff dafür) sehr erstrebenswert.
Bezüglich der Frage nach der Interessensformulierung: Bedauerlicherweis haben Personen aus höheren sozialen Schichten kraft ihrer Bildung, ihren ökonomischen Möglichkeiten und ihrer Nähe zu Entscheidungsträgern einen leichteren Zugang zur Macht. Dies hat der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht des Sozialministeriums bestätigt: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/armutsbericht-was-hinter-dem-streit-ueber-gestrichene-passagen-steckt-a-1126114.html
Ich persönlich finde am Debattiersport spannend und förderungswürdig, dass hier Menschen ihre argumentativen Fähigkeiten schulen können, lernen, das Streit produktiv und spannend ist und im besten Falle Positionen nachvollziehen können, die nicht ihrer persönlichen Meinung entsprechen. Dadurch kann der Debattiersport einen Beitrag für die demokratische Gesellschaft leisten, was ihn vom Rudersport oder Vollyball unterscheidet (auch wenn Vereinsengagement immer gut ist). Ich finde – und das habe ich Präsident versucht – dass jeder Student, egal aus welcher Schicht er kommt, die Möglichkeit haben sollte sich im Debattiersport zu betätigen. Nicht jeder will das, aber die Möglichkeit sollte jedem offenstehen.
Hört, hört!
Debattieren bringt andere individuelle Vorteile mit sich als Rudern oder Volleyball. Deswegen stellt sich die Gerechtigkeitsfrage bei uns in anderer Weise als in anderen Sportarten. Ziel einer verantwortungsvollen Debattierszene sollte sein, bestehende Ungleichgewichte abzumildern. (Wenn wir glauben, dass Debattieren wie Volleyball oder Rudern ist, dann müssen wir aufhören, damit zu werben, dass es political empowerment oder soft skills vermittelt. Anderes wäre bigott.)
Dabei geht es nicht darum, Leute zu ihrem Glück zu zwingen – deswegen ist Peters Aufregung hier fehlgeleitet -, sondern darum, eventuell bestehende Schranken abzubauen. Die Statistik kann hier nur ein Indiz sein. Natürlich muss man die Statistik interpretieren, und weitere Daten können jede Aussage unterminieren. Aber eine Kritik, die auf diesen einfach einzusehenden Umstand hinweist, ohne anhand anderer Daten auf eine alternative, bessere Interpretation hinzuarbeiten, sondern lediglich auf den Umstand hinweist, „dass es auch anders sein könnte“, ist wohlfeil und letztlich eine unkonstruktive Art und Weise, über diese Statistik zu kommunizieren. Denn das lässt sich über jede Statistik sagen.
Wichtiger ist die Frage, was wir tun sollten. Ich würde sagen: Lasst uns die Statistik als Indiz für eine Schieflage nehmen. Dieses Indiz kann trügerisch sein, aber etwas besseres haben wir zur Zeit nicht. Jemandem, der mit Blick auf die Handlungsfolgen auf der Basis argumentiert, das Indiz sei trügerisch, sollten wir die Beweislast aufbürden, Zahlen zu nennen, die diese Indizien schwächen. Wenn das geschieht, sollten wir bereit sein, unsere Ansicht zu revidieren und uns der Tatsache bewusst sein, dass unsere Deutung eines sehr begrenzren Weltausschnitts immer einer Fehldeutung sein kann.
Wenn man nun die Statistik als ein Sehwerkzeug nutzt, als ein Indiz, welches den Fokus darauf lenkt, dass Debattieren von ökonomischen Bedingungen umrahmt ist, dann kann man sehen: Turnierteilnahmen tragen maßgeblich zur Verbesserung der rhetorischen Fähigkeiten bei. Turniere sind teuer – so teuer, dass sich nicht jede*r die Teilnahme leisten kann. Ob das nun Arbeiter*innenkinder sind, oder nicht – wir sollten darauf hinwirken, die Teilnahme an Turnieren unabhängig vom ökonomischen Status zu ermöglichen.
Danke Christian, dass du dich getraut hast so offenherzig über eine Problematik zu sprechen, bei der vorprogrammiert war, dass sie vielen nicht schmecken wird. Vielen Dank für den wirklich wertvollen Beitrag.
Bitte beachtet, dass nach wie vor Klarnamen in den Kommentaren verwendet werden müssen. „terrorschwester“ ist kein Klarname.