Jugend debattiert, BPS und OPD: Ein Interview mit Ansgar Kemmann
Nur wenige Personen im VDCH haben ein neues Debattierformat entwickelt – Ansgar Kemmann ist Entwickler, Gründer und Leiter von „Jugend debattiert“ und hat nebenbei noch die Tübinger Debatte und das OPD-Format mitentwickelt. Über seine damaligen Gedanken, die verschiedenen Entwicklungen und Besonderheiten der Formate spricht er heute mit der Achten Minute.
Achte Minute: Wie kamst du erstmals auf das Debattieren?
Ansgar Kemmann: Schon als Schüler hatte ich gehört, dass in England an Universitäten debattiert wird. Als ich selbst zu studieren begann, hatte ich gehofft, auch hierzulande auf so etwas wie Debattierclubs zu treffen. Doch dem war leider nicht so. Ich habe mich dann hochschulpolitisch engagiert und dabei immer wieder festgestellt, dass unter meinen Kommilitonen eine eigentümliche Scheu davor bestand, öffentlich das Wort zu ergreifen. Im Wintersemester 89/90 gab es an zahlreichen Hochschulen der alten Bundesrepublik einen Streik, der noch einmal sehr deutlich zeigte, dass zwar viele Studenten bereit waren, zu demonstrieren, aber überfordert, wenn es darum ging, das Wort zu ergreifen. Es fehlte an Menschen mit Vertrauen in ihre Redefähigkeiten. Das war die Ausgangslage, die mich, als ich nach Tübingen ging, um dort im Aufbaustudium Rhetorik und Philosophie zu studieren, dazu brachte, dass ich dachte: Jetzt probierst du es – was es nicht gibt, das muss man erfinden!
Achte Minute: Wie ist die Tübinger Debatte entstanden?
Ansgar Kemmann: Meine Motivation war eine politische, keine sportliche. Ich wusste nichts vom Turnierbetrieb in der englischsprachigen Welt. Man braucht Gelegenheiten, sich rhetorisch zu üben, wenn man politisch wirksam werden will. Debatten bieten die Möglichkeit zu lernen, Gegensätze in zivilisierter Form und sportlichem Geist auszutragen – unter den Alltagsbedingungen endlicher Zeit und unvollständiger Information. Ein Debattierclub ist dafür ein ideales Forum: Man benötigt kein Mandat und muss niemand besonderes sein, um vor Publikum reden zu dürfen. Auch entstehen aus den Reden keine weitergehenden Pflichten. Weil ein solches Forum fehlte, habe ich mit einigen Freunden einen entsprechenden Club gegründet. Das war im Wintersemester 91/92 in Tübingen. Dass wir damit die ersten in Deutschland waren, war uns zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.
Unser Vorbild war die Oxford Union – oder das, was in Zeiten vor „Erasmus“ und Internet von dort her zu uns durchgesickert war, etwa in Form von Reportagen in Zeitungen und Magazinen. Aus diesen versuchten wir, so gut es ging, den Ablauf der Debatten zu erkennen und legten die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages daneben, wann immer wir in der Formulierung unserer Regeln nicht weiter wussten. Das Format der Tübinger Debatte war also ein Versuch, die Oxford Floor Debate auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Ganz wichtig: Das Publikum hat vor Beginn der Debatte geheim und nach der Debatte offen abgestimmt, so dass man sah, ob sich durch die Debatte etwas im Meinungsfeld verändert hat.
Achte Minute: Wie kam es zur Offenen Parlamentarischen Debatte?
Ansgar Kemmann: Wir sind 2001 von Tübingen aus zur ersten DDM in Berlin gefahren und waren vollkommen unzufrieden mit dem, was wir dort erlebten. Wir fanden, zumindest so, wie wir es damals kennenlernten, dass eine Debatte im BPS extrem selbstreferenziell ist. Es gibt kein Publikum, das überzeugt werden muss. Es gibt keine externe Instanz, an der sich ein Redner bewähren muss. Deshalb haben wir überlegt, wie wir den BPS so verändern können, dass die Stärken des BPS – Stringenz und Turnierfähigkeit – erhalten bleiben und gleichzeitig die Stärke des Tübinger Formats – dass ein Publikum überzeugt werden muss – damit unter einen Hut kommt. Da ein großer Floor im Turnierbetrieb nicht möglich ist, haben wir dann als Minifloor die Fraktionsfreien Redner eingeführt. Dieser flexible Faktor der OPD führt dazu, dass die Teams sich nicht damit begnügen können, sich in ihren Positionen zu verschanzen. Der Ausgang der Debatte ist offen und deshalb bleibt die Debatte spannend. Das war im Sommer 2001, auf dem Rückweg von Berlin entstanden bereits die Grundzüge. Der Ursprung des Formats geht auf diese Autofahrt von Michael Hoppmann, Bernd Rex und mir zurück.
Achte Minute: Und schließlich entstand Jugend debattiert? Was waren deine Gedanken?
Ansgar Kemmann: Jugend debattiert entstand 1999 – damals hatte die Hamburger Bürgerschaft vor, einen Jugendredewettbewerb auszurichten, und zwar für Schülerinnen und Schüler. Da kam man auf die Idee, dass man es ja mit Debating versuchen könnte, in einer anglophilen Stadt ein naheliegender Gedanke. Ich war damals außerdem Mitglied eines Vereins namens „Jugend streitet“, den es heute nicht mehr gibt, weil er sein Ziel erreicht hat, nämlich einen bundesweiten Schülerwettstreit im Debattieren. Dieser Verein hatte der Hamburger Bürgerschaft den Impuls Richtung Debatte gegeben. Da ich in diesem Verein die meiste Felderfahrung hatte, sollte ich die Regeln schreiben. Da habe ich die Regeln der Tübinger Debatte für den Schulgebrauch eingerichtet. Die Debatte musste niedrigschwellig erscheinen, so einfach wie möglich, für alle machbar und so kurz, dass sie in eine Schulstunde passt – mitsamt Auswertung. Die Debatte durfte also nicht viel länger als eine halbe Unterrichtsstunde dauern. Die Redezeiten habe ich entsprechend gekürzt, den Floor weggelassen, so dass der Mittelteil, die Freie Aussprache, nun ohne Publikum stattfand. Verteilt man die Gesamtdauer von 24 Minuten auf vier Personen, kommt man auf etwa 6 Minuten Redezeit pro Person. Im BPS-Schulformat sind es 7 Minuten, die Debatte dauert aber fast doppelt so lang, nämlich 42 Minuten. Ich wusste wohl, dass in England an Schulen debattiert wird, doch dachte ich mir, dass die deutsche Gesellschaft andere soziale und historische Voraussetzungen hat, insbesondere Skepsis gegenüber jeglicher „Rhetorik“, und daher andere Regeln braucht. Noch in den 1990ern setzten viele Lehrer Rhetorik mit Demagogie und Täuschung gleich, eine Hürde, die ein Gesprächsformat eher nahm.
Achte Minute: Worin unterscheidet sich Jugend debattiert vom Hochschuldebattieren?
Ansgar Kemmann: Wie gesagt, Jugend debattiert ist ein gesprächsorientiertes Format, das Hochschuldebattieren pflegt die redeorientierten parlamentarischen Formate, die mehr Kondition und mehr Disziplin abverlangen und von selbst Kontroversen ausschärfen. Im gesprächsförmigen Debattieren kann man dafür eher erleben, dass eine Debatte auch Denken verwandeln und zu einer Auflösung vorgefasster Meinungen führen kann. Jugend debattiert erlaubt sogar Positionswechsel in der Schlussrunde – zumindest in nichtöffentlicher Debatte, wenn es nur um die eigene Positionsbestimmung geht. Aber auch in öffentlicher Debatte und im Turnierbetrieb ist es möglich, die bezogene Position zu modifizieren und z.B. zu erklären: ‚Mein ausschlaggebendes Argument ist, im Lichte der Debatte, ein anderes als das, das ich zu Beginn ausgeführt habe. Ich habe aus unserer Debatte gelernt verstehe meine Position jetzt anders oder besser.‘
Wie groß ist Jugend debattiert mittlerweile, was waren Meilensteine?
Ansgar Kemmann: Wir haben inzwischen 1200 Schulen in Deutschland und etwa 200.000 Teilnehmer an der Basis in den Unterrichtsreihen. Wie viele davon dann in Klassen- und Schulwettbewerbe gehen, ist uns nicht bekannt. Seit Beginn sind die Teilnehmerzahlen jedes Jahr gestiegen. Der erste Meilenstein nach dem Aufbruch in Hamburg war sicher der Einstieg der Hertie-Stiftung und die Weiterentwicklung in Frankfurt 2001. Das Ziel war nun, auch die Lehrer zu erreichen, denn diese sorgen an Schulen für Kontinuität. Also kamen Lehrerfortbildungen dazu.
Der nächste Meilenstein war, dass Bundespräsident Johannes Rau sich meldete und anbot, Schirmherr von Jugend debattiert zu werden, wenn die Initiative sich bundesweit und mit Unterstützung weiterer Stiftungen etablieren könnte. Seit Schuljahr 2002/03 gibt es Jugend debattiert bundesweit, in Kooperation mit den Kultusministerien aller sechzehn Bundesländer.
Schon im folgenden Schuljahr wurde Jugend debattiert auch im Ausland für Deutschlerner gestartet, zunächst in Polen und Tschechien. Mittlerweile sind es in Mittel- und Osteuropa zehn Länder, die an „Jugend debattiert international“ teilnehmen, seit 2006 im Regelbetrieb. Unabhängig davon hatte sich 2005 Jugend debattiert in der Schweiz Einzug gehalten, das bis heute parallel zu uns eigenständig dreisprachig stattfindet, allerdings in einem Zweijahreszyklus.
Als nächstes zu nennen, wiederum in Deutschland, ist der Förderung auch durch die Landtage, die wir von 2005 bis 2015 nach und nach alle als feste Partner gewinnen konnten. Im Schuljahr 2011/12 kam Jugend debattiert auch nach Spanien und Portugal, ebenso nach Brasilien und China. Seit diesem Jahr ist Jugend debattiert in sechs südamerikanischen Ländern vertreten. Der jüngste Meilenstein ist – im Zuge der Flüchtlingskrise – ein Pilotprojekt in Berlin: „Jugend debattiert in Willkommensklassen“, das sind Sprachlernklassen vor dem Regelschulbesuch. Debattieren ist Sprachform und Sozialform zugleich und kann auch spielerisch vermitteln, was Zuwanderer in unsere Gesellschaft brauchen. Schauen wir mal, wie das angenommen wird.
Achte Minute: Wie kommt es, dass Jugend debattiert bis heute so groß werden konnte?
Ansgar Kemmann: Überaus hilfreich war und ist die Unterstützung durch den Bundespräsidenten. Ein weiterer Grund ist, dass wir die fürs Debattieren relevanten stakeholder an einen Tisch bekommen haben: Parlamente, Schulen, zivilgesellschaftliche Kräfte – alle, die ein Interesse daran haben, dass Schüler debattieren lernen. Die Synergie dieser Kräfte ist, was dem Ganzen so viel Schub gibt. Wäre es nur eine einzelne gewesen, würde immer ein Faktor fehlen.
Achte Minute: Gemessen an den Zahlen der Debattierenden bleiben nur wenige Schüler an der Uni dabei. Woran könnte das liegen?
Ansgar Kemmann: Meine Vermutungen sind folgende: Parlamentarisches Debattieren verlangt, allein vor anderen zu stehen, im Feuer der Zwischenfragen. Bei Jugend debattiert gibt es das in dieser Form nicht, man tritt stets gemeinsam ans Pult und führt ein Gespräch miteinander. Für alle, die nicht mit sportlichem Ehrgeiz dabei waren, könnte das ein Grund sein, vor dem parlamentarischen Debattieren zurückzuschrecken. Bei denjenigen, die im Wettbewerb erfolgreich waren, vermute ich, dass viele zögern, weil sich in Hochschulclubs das Sportliche immer wieder verselbständigt, also so im Vordergrund steht, dass Themen nur Mittel zum Zweck sind. Zwar möchte man auch thematisch sattelfest sein, aber um des Sattelfestseins, nicht um des Themas willen. Ich glaube, dass ein Großteil der Jugend debattiert-Teilnehmer da eine andere Präferenz ausgebildet hat. Debattieren heißt für mich auch, sich für das Thema und eine intensive, dialogische Auseinandersetzung zu interessieren, die mich sehen lässt, dass auch die Gegenseite gute Gründe hat und ihrerseits etwas gesehen haben könnte, dass ich noch übersehen habe.
Das Interview führte Lennart Lokstein für die Achte Minute.
lok.
Ansgar Kemmann ist deutscher Rhetoriker und Projektleiter bei Jugend debattiert. Er gründete 1991 die Tübinger Debatte e.V. und war an der Entwicklung dreier Debattierformate (Tübinger Debatte, Jugend debattiert, Offene Parlamentarische Debatte) beteiligt. Der bundesweite Schülerwettbewerb Jugend debattiert wurde durch seine Arbeit national wie international erfolgreich.
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