Debattieren in Tunesien: Debate to Action
Am Mittwoch, dem 23. März, flogen zwei Mitglieder von Clubs im Verband der Debattierclubs an
Hochschulen (VDCH) spontan nach Tunis: Lennart Lokstein und Sibylla Jenner waren eingeladen, am Young Arab Voice Forum teilzunehmen. Ein Debattierturnier der besonderen Art, mit Teilnehmern aus dem Nahen Osten und Nordafrika. Von dem Jurieren dort und Eindrücken der Reise berichtet Sibylla.
Eine spontane Reise
Das Schöne an minutiös ausgearbeiteten Zeitplänen, zur rechtzeitigen Fertigstellung von Hausarbeiten, ist, wie schnell man sie über den Haufen werfen kann. Und was gibt es für einen besseren Grund, geplante Arbeiten zu vernachlässigen, als eine spontane Reise anzutreten, für die man eigentlich überhaupt keine Zeit hat? Vorletzte Woche erreichte die deutsche Debattierwelt eine Email, die internationale Juroren mit einer gratis Reise nach Tunesien zum Young Arabic Voices Forum lockte. Ein Forum, von dem ich zuvor noch nie gehört hatte, aber die Aussicht, fünf Tage in Tunis zu verbringen, war mehr als nur verlockend und so nahm ich die Einladung sehr spontan dankend an. Zwar musste man sich zwischendurch noch mit einem hastig geschriebenen CV bewerben und durfte dann bis sehr kurz vor Abflug auf seine Flugtickets warten, aber alles in allem schien es eine fantastische Gelegenheit zu sein. Meine Neugier auf diese Organisation, die genug Geld hatte, um sich ihre Juroren aus Europa einfliegen zu lassen, wuchs. Das Warten, bis das Turnier losging, konnte man sich mit ausgedehnten Googlerecherchen über die Veranstaltung vertreiben. Ausgerichtet wurde das Forum durch eine Kooperation der Anna Lindh Foundation, dem British Council und der IDEA Stiftung. Entstanden 2011, versucht es, das Debattieren als Möglichkeit für Studenten sich politisch zu äußern zu fördern und bekannt zu machen. Und das mit Erfolg: seit dem Arabischen Frühling ist das Interesse am Debattieren bei jungen Menschen dort explodiert. Mehr als 100.000 Debattierer gibt es anscheinend mittlerweile in der MENA (Middle East/North Africa) Region. Die diesjährige Veranstaltung wagte unter dem Motto “Debate to Action”, den Versuch aus dem Debattieren tatsächlich politische Konsequenzen wachsen zu lassen. In Tunis angekommen, durfte ich feststellen, dass Förderungen des British Council sich tatsächlich lohnen. Die Veranstaltung war mit Mitteln ausgestattet, die einen europäischen Debattierer vor Neid erblassen ließen, fand sie doch in einem 5-Sterne-Hotel direkt am Strand statt. Zwar ließ das Essen etwas zu wünschen übrig und die Pools hatten schon bessere Tage gesehen, aber für jemanden, der noch immer von einer nächtlichen Begegnung mit einer Ratte (ok, es war eine niedliche Hausratte, aber ich schwöre sie war sooooo groß!) bei ihrem letzten Turniercrash traumatisiert ist, war es eine wirklich – sagen wir mal – positive Überraschung. Die ca. 10 Europäer die auch am Turnier teilnahmen, sahen bei der Ankunft im Hotel ebenso verblüfft aus wie ich. Mit dabei, um mir aus Deutschland Gesellschaft zu leisten, war – natürlich – Lennart. Ein Turnier ohne ihn ist auch mehr ein theoretisches Konstrukt. Die anderen ca. 110 Teilnehmer des Turniers stammten aus der MENA Region, namentlich Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Jordanien, Libanon, Palästina. Sie wirkten schon eher so, als wären sie an gut gesponserte Veranstaltungen gewöhnt. Während für uns Europäer die Reisen, von ein paar verlorenen Gepäckstücken abgesehen, weitgehend entspannt verliefen, ist Reisefreiheit für die Menschen aus MENA keinesfalls die Selbstverständlichkeit, die sie für uns ist. Die Libyer steckten eine ganze Nacht am Flughafen fest, man wollte sie erst nicht ins Land hineinlassen. Die Palästinenser hatten so viele Probleme ins Land zu kommen, dass fast das ganze Turnier ihretwegen aufgehalten wurde, und libanesische Juroren warteten zwei Tage darauf, dass das Flugzeug von Beirut nach Tunis überhaupt losflog. Alles in allem nicht ganz mit der Mobilität, die für uns verwöhnte Europäer alltäglich ist, zu vergleichen.
Arabic debating
Das Turnier bestand aus einem arabischen und einem englischen Track. Die erste Überraschung wartete auf die Juroren beim ersten Briefing am Donnerstagmorgen. Das Format, das der British Council als “British Parlamentary Style”, eingeführt hatte, wurde nicht wie gewohnt von vier Teams, sondern von zwei Teams, bestehend aus vier Leuten, bestritten. Ansonsten sei aber alles gleich, wurde uns versichert, die Rollen der einzelnen Redner blieben dieselben. (Member of Governement und Member of Opposition müssen beide eine Extension einführen und die Whip fasst für die eigene Seite zusammen.) Natürlich keine Zwischenrufe, eine Skala von 20-30 Punkten. Sieg und Niederlage wurde lediglich durch die Speaks entschieden. Naja man gewöhnt sich an alles. Das Format wurde 2011 vom Youth Forum eingeführt, als alles noch sehr neu war und man hatte sich wohl einfach geirrt. Seitdem wurde der Irrtum eingesehen, aber man konnte es auch nicht einfach wieder verändern. Und demgemäß ist es bei diesem System geblieben. So richtig glücklich scheint über das Format aber eigentlich niemand mehr zu sein und wahrhaftig einheitlichen Standards unterliegt es auch noch nicht. Die Organisatoren rieten uns dazu, die “Delivery” einer Rede nicht weiter zu beachten, man wolle versuchen, die Leute von zu viel Rhetorik wegzubringen und endlich ein bisschen mehr Analyse einzuführen. Die Teilnehmer waren aber jedes Mal entsetzt, wenn wir die rhetorische Leistung nicht genug gewürdigt haben. Diese Auseinandersetzung, die ja auch bei uns noch nicht beendet ist, hat dort gerade erst begonnen. Dass das Debattieren dort noch in den Kinderschuhen steckt, wurde nicht nur deutlich, an den noch nicht abschließend geklärten Formatfragen, sondern auch an der Organisation des Turniers. Es war alles ein bisschen ineffizienter und chaotischer als nicht nur wir, sondern auch Debattierer aus Tschechien, Portugal und Mazedonien es gewohnt waren. Als jemand, die vor kurzen erst selber ein Turnier ausgerichtet hat und die einfach der Devise des Clubs “the same procedure as last year” gefolgt ist, war es interessant, sich so direkt vor Augen führen zu können, wie sehr wir uns auf Strukturen verlassen, die bereits existieren. Und während wir uns das Geld immer noch mühsam an allen Ecken und Enden zusammenkratzen müssen, können wir uns doch auf das Know-how verlassen, dass uns die Debattierer der vergangenen 10 Jahre weitergegeben haben. Diese Strukturen helfen dabei, Redner so schnell wie möglich zu schulen, indem wir ihnen jede Woche ein Turnier und regelmäßige Trainings anbieten können. Den mühsamen Prozess, solche Strukturen einzurichten, hat die MENA Region gerade erst begonnen. Und so entsprach das Debattierniveau, das wir im englischen Track erlebten, etwa dem eines Anfängerturniers. Teilweise war dies sicherlich auch der sprachlichen Herausforderung geschuldet, aber die Struktur eines Arguments wurde den meisten der Redner anscheinend noch nicht erklärt. Die Reden dauerten auch noch nicht wirklich lange. Potential war aber bei den Rednern auf jeden Fall in großen Mengen vorhanden. Die Reden wurden nach 3 Turniertagen auch zunehmend länger und besser. Die Geschlechterverteilung auf diesem Turnier war erfreulicherweise, in meiner Wahrnehmung, eher so bei 50/50, vermutlich gab es sogar etwas mehr Frauen als Männer auf diesem Turnier. Und meistens hielten, die Frauen, die ich gesehen habe, die besseren und durchdachteren Reden. Tatsächlich war es aber wirklich problematisch, dass der Zeitplan des Turniers keine Gelegenheit für institutionelles Feedback bot, alle Runden waren geschlossen. Dies bedeutete, dass jedes Team, das Feedback wollte, sich erstmal seine frei rumlaufenden Juroren zusammensuchen musste, um es auch zu bekommen. Es ist also nicht verwunderlich, dass Feedback eher die Ausnahme war. Dies bedeutet aber, dass der entscheidende Lernfaktor eines Turniers, das sich zu Herzen Nehmen von konstruktivem Feedback, wegfiel. Wir mussten uns also spontan eine Alternative einfallen lassen und so bot vor allem Lennart am Freitagabend noch einen spontanen Workshop für Interessierte an und erklärte erst mal noch ein paar Basics. Auch eine spannende echte BPS-Debatte wurde noch spät nachts geführt.
Die politische Dimension des Debattierens
Aber um den sportlichen Aspekt ging es bei dieser Veranstaltung auch nicht so sehr. Für die arabische Welt hat das Debattieren eine deutlich stärkere politische Dimension. Während wir hauptsächlich um des Debattierens Willen und zur Entwicklung von diversen Softskills debattieren, war für viele der Studenten, mit denen ich gesprochen habe, das Debattieren ein Weg zum politischen Austausch. Etwas, das für uns so eine Selbstverständlichkeit ist, dass wir gerne vergessen, was für ein Luxus es ist, sich auf ein Podium zu stellen, um über die Trennung von Staat und Kirchen reden zu können. Für die Studenten aber, die sich ihre Meinungsfreiheiten gerade erst so hart selber erkämpft haben, war es oft ein Privileg. Tatsächlich waren viele der dortigen Studenten selber auf Demonstrationen und in politischen Aktionen am Arabischen Frühling beteiligt gewesen und mussten selber am eigenen Leib die Konsequenzen von schlechten Regierungen tragen. Kein Wunder also, dass das Bedürfnis von jungen Menschen in der ganzen Region gewachsen ist, sich politisch auf nicht konfrontative Art und Weise zu betätigen. Politische Arbeit dauert lange und ist schmerzhaft, umso mehr freuen sich alle darüber, wenn Erfolge erbracht werden, diese lassen sich auch anhand neuer Debattierthemen ermessen. So konnten zum Beispiel in Algerien erst vor wenigen Tagen die Studenten zum ersten Mal über die dortige Verfassung debattieren. Das Debattieren scheint in der MENA-Region tatsächlich genau diejenige demokratische Wirkung zu haben, von der wir immer alle hoffen, dass es sie hat. Aissam Benaissa, der gerade erst die oben genannte Veranstaltung in Algerien ausgerichtet hat, berichtete mir, dass er mit eigenen Augen beobachten konnte, wie das Debattieren Menschen toleranter macht und offen für neuen Ideen voneinander. Das Debattieren legt den Fokus dabei darauf, konstruktiv miteinander zu reden, statt gehässig übereinander. Entsprechend liebevoll und respektvoll war das Zusammensein der Menschen. Der Umgang mit den Menschen dort war ein wahres Vergnügen und es war eine absolute Freude so viele großartige Leute kennen zu lernen, Einladungen nach Ägypten, Marokko, den Libanon zu bekommen und selbst welche auszusprechen. Nicht zuletzt war die vergangene Woche aber die Gelegenheit für mich, die politische Dimension des Debattierens auf eine völlig neue Art und Weise zu erkennen und sich darüber klar zu werden, dass die Maßnahmen zur Förderung des demokratischen Diskurses dort am dringendsten gebraucht werden, wo die Demokratien noch auf sehr wackligen Beinen stehen oder gar nicht vorhanden sind. Es war inspirierend, Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich passioniert auf friedliche Art für eben jene Demokratie eingesetzt haben. Eine Meinung, die ich im Übrigen mit der Friedensnobelpreisträgerin Wided Bouchamaoui teile, die das Forum besucht hat und uns auf der Closing Ceremony noch eine Botschaft mit nach Haus gab: “Our future rests in the hands of young women and men, we need to invest in listening to youth and giving them the opportunity to be present in civil society which is the best way to fight radicalisation.”
Sibylla Jenner debattiert seit April 2015 in Hamburg. Sie gewann das Hannoveraner Freunschaftsturnier und stand im Finale des Paderborner OWL Cups. Sie organisierte die ZEIT DEBATTE Hamburg 2016 und ist im Vorstand des Debattierclub Hamburg e.V. Zur Zeit studiert sie Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Hamburg.
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Sibylla Jenner/lok