„Eine für alle, Alle für eine?“ – Jonathan Scholbach über ein Problem haecceitistischer Argumente in unterbestimmten firstperson-Motions
Definitionen
Als unterbestimmten firstperson-Motions bezeichne ich Debattenthemen des Typs “Dieses Haus als (Individuum oder Institution) α mit den Eigenschaften a0. . . an würde X tun.” Ein Beispiel ist die Motion vom kürzlich stattgefundenen Boddencup “Dieses Haus als russische Oppositionspolitiker mit westlich-liberalen Werten würde emigrieren.” Eine solche Definition liefert eine Gruppe von Individuen αi, i ∈ I, die aus den Eigenschaften a0. . . an aufgespannt wird. Aus dieser Gruppe wird nun ein Individuum α0 (beliebig aber fest) ausgewählt. Aus dieser Auswahl resultiert ein Problem, das ich hier diskutieren will. (Aus diesem Problem motiviert sich die Klassifizierung dieser Motions als unterbestimmt.)
Mit der genannten Auswahl unterscheiden sich unterbestimmte Motions einerseits von Motions mit generalisierter Akteurin, das sind Motions des Typs “Dieses Haus glaubt, alle αi mit den Eigenschaften a0. . . an sollten X tun.” – etwa “Dieses Haus glaubt, alle Deutschen sollten ihre Pässe verbrennen.” – und andererseits von individualisierten firstperson-Motions, das sind Motions des Typs “Dieses Haus als Individuum α0 würde X tun.”, bei denen das feste Individuum bereits in der Motion ausgewählt ist, beispielsweise “Dieses Haus als Angela Merkel würde bei der nächsten Bundestagswahl nicht wieder kandidieren.” Schließlich unterscheidet sich die unterbestimmte Motion auch von Motions ohne Akteurin, also von Motions des Typs “Dieses Haus glaubt, X sollte getan werden”.
Als Haecceitismus wird in der Philosophie die metaphysische Position bezeichnet, gemäß der Entitäten allein kraft ihrer bloßen Individualität unterscheidbar sind, d.h. selbst dann, wenn sie keine verschiedenen Eigenschaften haben. Als haecceitistisches Argument in einer unterbestimmten firstperson-Motion bezeichne ich ein Argument mit folgender Struktur: Die Gruppe der αi, i ∈ I ist hinsichtlich weiterer Individualeigenschaften b0. . . bm heterogen. Diese Eigenschaften sind relevant für die Entscheidung X, über die gestritten wird. (Wir würden beispielsweise einsehen, dass die Argumentation in der oben genannten Motion vom Boddencup für eine alte und sterbenskranke Oppositionspolitikerin ohne Familie ganz anders aussieht als für eine junge und gesunde Oppositionelle mit Familie.) Deshalb wird es in der Gruppe αii ∈ I solche αj geben, die sich für X entscheiden und solche αk, die sich gegen X entscheiden. Das beliebig aber fest ausgewählte Individuum sollte sich mit dem Wissen, dass es Leute gibt, die sich gegen X entscheiden, für X entscheiden. Ein Beispiel aus der Boddencup-Debatte könnte folgende Argumentation sein: “Es wird Oppositionelle geben, die in Russland bleiben. Wenn wir ins Exil gehen, können wir deren Aktionen in den (westlichen) Medien kommentieren und mit Hilfe einer Übersetzungsleistung, zu der nur wir als Insider, als genaue Kenner der Situation vor Ort, in der Lage sind, zu einer besseren Interpretation der russischen Geschehnisse in den westlichen Medien beitragen.”
Dieses Argument nenne ich haecceitistisch, weil es davon ausgeht, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem beliebig herausgegriffenen Individuum, und dem Rest der Individuen, obwohl in der Definition des Individuums dieser Unterschied nicht gegeben ist, sondern allein im Moment der Auswahl entstehen soll.
Das logische Problem
Die Beliebigkeit des Arguments
Die Bewertung dieser Argumentation ist hochgradig problematisch. Denn es ist leicht einzusehen, dass die Gegenseite das Argument mit genau umgekehrtem Vorzeichen für sich reklamieren kann. Im Beispiel könnte die Oppostion argumentieren: “Wenn wir davon ausgehen, dass einige Oppositionelle emigrieren, dann sollten gerade wir im Land bleiben, weil unsere Aktivitäten durch die Interpretation der Emigranten in den westlichen Medien jetzt richtig eingeordnet werden können und ihre Wirkung multipliziert werden kann.” Konsequenterweise müsste jetzt ein Streit darum entbrennen, welches quantitative Maß der Emigrationsquote optimal wäre und warum wir dieses optimale Ergebnis genau erreichen, wenn wir auswandern – oder eben nicht. Aber auch das wäre, wenn man es genau besieht, nur eine Neuauflage des haecceitistischen Arguments.
Die Beliebigkeit des Arguments, der Umstand, dass ein Argument im Grunde für beide Seiten fruchtbar gemacht werden kann, weist bereits darauf hin, dass das Argument irgendwo ein logisches Problem hat.
Der Widerspruch
Der Kern des Problems ist die Widersprüchlichkeit des haecceitistischen Arguments: In der heterogenen Gruppe sollte das in Rede stehende Individumm α0 sich für X entscheiden, andere Individuen sollen/werden sich gegen X entscheiden. Wer aber sagt uns, dass unser beliebig, aber fest gewähltes α0 nicht genau in der anderen Gruppe ist? In der Motion ist ein notwendiges Differenzierungskriterium gerade nicht gegeben, die Debatte läuft also letztlich auf eine Aussage-gegen-Aussage-Logik der beiden Seiten hinaus. Auch der Versuch der Teams, die Debatte zu retten, indem sie die behaupteten Eigenschaften b0. . . bn aus den gegebenen Eigenschaften a0. . . an mit Plausbilitätsargumenten ableiten, muss letztlich scheitern, weil es qua Unterbestimmtheit der Motion immer solche Eigenschaften geben wird, die sich nicht aus den gegebenen Eigenschaften ableiten lassen, aber streitentscheidend sind. (Wäre das nicht der Fall, befänden wir uns in Wirklichkeit in einer Motion mit generalisierter Akteurin.)
Man könnte hier versuchen, zwischen normativer und empirischer Ebene zu unterscheiden. Man könnte sagen: “Wir sind als Individuum in der Lage, empirisch zu erkennen, dass andere in unserer Situtaion X tun würden. Aber wir sind gleichzeitig in der Lage, moralisch zu erkennen, dass wir X nicht tun sollten”. Aber auch diese Linie verfängt nicht. Denn dann müssen wir erklären, wodurch unsere Erkenntnis ausgezeichnet ist gegenüber der Erkenntnis der anderen. Und wieder finden wir uns in einer haecceitistischen Argumentaionslinie. Letztlich laufen alle Differenzierungen, die man zwischen dem α0 und den anderen αi ziehen will, auf den Haecceitismus hinaus, weil die Motion ja keine Differenzierungen beinhaltet. Wie man es auch dreht und wendet, der Haecceitismus führt zu einem Dualismus, der nicht begründbar ist und der auf dem Problem fußt, dass nur durch die Auswahl des Indviduums dessen Eigenschaften festgelegt werden sollen.
Die naheliegende Verwechslung
Die haecceitistische Linie erscheint Vielen dennoch zunächst als sehr plausibel. Das liegt in meinen Augen an einer naheliegenden Verwechslung: In der Realität treffen wir ganz häufig Entscheidungen in dem Wissen, dass sich andere Leute anders verhalten werden. Beispielsweise treffen wir bestimmte Entscheidungen, weil wir sie moralisch auch dann für geboten halten, wenn wir die Einzigen sind, die sich an dieses moralische Gebot gebunden fühlen, oder wir wetten auf ein Ereignis, weil wir wissen, dass wir denen gegenüber, die gegen uns wetten, einen Informationsvorsprung haben. Vor dem Hintergrund dieser Alltagserfahrungen mag man dazu neigen, das haecceitistische Argument für plausibel zu halten. Der Unterschied ist aber, dass wir in der Realität niemals in einer unterbestimmten Motion sind, sondern immer in einer Motion mit individualisierter oder – wenn wir als Gruppe entscheiden – mit generalisierter Akteurin. Dieses Unterschieds muss man gewahr sein, wenn man über unterbestimmte Motions spricht, oder wenn man das Pech hat, sie debattieren oder jurieren zu müssen.
Analogie Placesetting?
Es gibt ein ähnliches Problem in anderen Debatten. Nehmen wir beispielsweise die Motion “Dieses Haus würde eine Reichensteuer einführen.” Hier hat die Oppostion unter Anderem das Abwanderungsargument. Auch dieses Argument geht davon aus, dass andere Staaten sich keine Reichensteuer geben werden.
Wie gehen wir als Jury mit diesem Argument um? In der Regel wird dieses Argument wohl nicht als besonders schwerwiegend gewertet. Die Regierung wird irgendwas dazu sagen, um den quantitaiven Effekt zu marginalisieren, und wenn die Opposition weiter an diesem Punkt festhält, dann droht sie, sich außerhalb der Relevanz der Debatte zu bewegen. Wir interpretieren die Motion also im Grunde als Motion mit generalisierter Akteurin oder gar als Motion ohne Akteurin, weil wir wollen, dass über das Prinzip gestritten wird. Die Chefjury muss daher bei der Auswahl der Themen darauf achten, dass es neben dem Abwanderungsargument noch weitere grundlegende Argumente auf beiden Seiten gibt, und dass die Regierung die Motion nicht schon durch das Setting entscheiden kann.
Analog zur unterbestimmten first-person-Motion wäre in etwa die Formulierung “Dieses Haus als ein europäisches Land X würde im Alleingang eine Reichensteuer einführen.” In der letzten Formulierung spielt es eine zentrale Rolle, ob dieses Land X Deutschland, die Slowakei, Luxemburg oder die Schweiz ist. Abhängig davon ergeben sich verschiedene Antworten auf zentrale Fragen der Debatte. Genau dieses Problem haben wir auch in einer unterbestimmten firstperson-Motion.
Debatten mit offenem Place- und Akteurssetting sind also nur dann unterbestimmte first-person-Motions, wenn nicht implizit klar ist, wer der Akteur ist, und wenn dabei die Frage, wer der Akteur ist, streitentscheidend werden kann.
Die Konsequenz
Wenn beide Seiten anerkennen, dass es für eine Teilgruppe αi, i ∈ J ⊂ I sinnvoll wäre, die Motion zu befolgen und für die komplementäre Teilgruppe αi, i ∈ I \ J nicht, dann ist die Debatte an einem toten Punkt angelangt. Es ist dann wie in den Anfängerdebatten, in denen sich beide Seiten auf einen Kompromiss einigen. Wenn die Heterogenität der unterbestimmten Gruppe plausibel ist, ist dieser Kompromiss aber letztlich keine Schlechtleistung der Teams, sondern ein Problem der Motion. Denn dann verpflichtet sie die Teams auf eine kontrafaktische Argumentation, damit sie den Kompromiss vermeiden, was in meinen Augen immer eine Schwäche von Motions ist, die vermieden werden sollte.
Wie sollten wir mit diesem Problem umgehen? Ich sehe zwei mögliche Konsequenzen: Wir könnten erstens Chefjuries anhalten, keine derart unterbestimmten first-person-Motions zu setzen, oder wir können uns auf einen einheitlichen Weg einigen, wie wir mit haecceitistischen Argumenten in unterbestimmten Debatten umgehen. Ich tendiere stark zu Ersterem. Falls wir den zweiten Weg gehen wollen, sollten aber die Maßstäbe, wie wir solche Argumente bewerten, einheitlich und klar sein (weil ich eben dies für kompliziert, langwierig und kostspielig halte, tendiere ich zur ersten Lösung), damit die Teams in diesen Situation wissen, welche Bewertungsmetrik sie erwartet. Auch diese Wertungs- und Kommunikationsaufgabe wird wohl eine Aufgabe sein, deren Erfüllung man der Chefjury zuschreiben muss.
Jonathan Scholbach/ama
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Jonathan Scholbach studiert in Jena Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften und war Präsident der Debattiergesellschaft Jena. Zusammen mit Friederike Meyer zu Wendischhoff und Severin Weingarten wurde er 2013 Regionalmeister. Er war Chefjuror des Magdeburger Elbe Opens 2013 und der Westdeutschen Meisterschaft 2014 in Münster. Jonathan ist Master-Trainer im Train-the-Trainer-Programm des VDCH.
Dein Widerspruch ist mir nicht klar.
Um zu zeigen, dass es für einen einzelnen Akteur i sinnvoll ist die Motion zu befolgen, muss man nicht zeigen, dass das gut für alle Akteure der betroffenen Gruppe wäre. Da im SQ offensichtlich nicht alle Akteure nach der Motion handeln, reicht es zu zeigen, dass es sinnvoll wäre, wenn dies mehr Menschen machen. Bei der Debatte um den russischen Oppositionspolitiker geht es also u.a. um die Frage, ob der Anteil der Auswanderer größer oder kleiner sein sollte. Die Seiten müssen nicht zeigen, dass alle oder gar niemand mehr auswandern sollten.
Problematisch sind First Persion Motions meiner Meinung nach nur, wenn für die Debatte relevanten Eigenschaften des Akteurs unklar spezifiziert sind. Dann wird sich sehr viel über diese Eigenschaften gestritten, was keine schöne Debatte entstehen lässt.
Als Urheber des genannten Themas vom Boddencup möchte ich an dieser Stelle etwas Asche auf mein Haupt nehmen und stimme Jonathan im Wesentlichen zu: So würde ich das nicht noch einmal stellen.
Wir gingen in der Chefjury einfach davon aus, dass die Debattenteilnehmer*innen sich auf einen „durchschnittlichen“ Oppositionspolitiker ohne spezielle Eigenschaften, die eine Seite stark bevorteilen oder benachteiligen würden, einigen und die Streitpunkte auch so klar erkennen würden. Ich gestehe aber im Nachhinein zu, dass das nicht klar genug definiert war und so entstanden in einigen Debatten wohl auch tatsächlich Unsicherheiten darüber, in welcher Metrik diese Debatte zu führen sei.
@Christian: Es ging uns tatsächlich eher darum, den persönlichen Gewissenskonflikt (eigene Sicherheit vs. Aufgabe der Heimat sowie die Frage, von wo aus man eher politischen Wandel bewirken kann) einer einzelnen Person in den Fokus der Debatte zu stellen. Patrick Ehmann hat dies auch sehr treffend als individualethische Entscheidung oder intra-individuellen ethischen Konflikt bezeichnet. Eine Debatte, wie du sie skizzierst, hätte ich eher mit „DHG russische Oppositionspolitiker sollten aus Russland emigrieren“ oder so ähnlich formuliert.
In sofern bitte ich um Entschuldigung für die entstandene Unklarheit in einigen Debatten.
Deine selbstkritische Haltung ist natürlich sehr löblich, Tobi. Aber es war eigentlich gar nicht so sehr als Kritik an dem konkreten Beispiel gemeint. Mir geht es vor Allem um die Frage, wie wir generell mit dem logischen Problem umgehen, das es auch dann gibt, wenn die Gruppe nur klein ist. Patrick bringt zwar mit „individualethische Entscheidung“ den richtigen Begriff ein, aber das logische Problem der Debatte liegt m.E. im Moment der Auswahl.
Christian, ich sehe das fast wie Du. Du schreibst: „Problematisch sind First Persion Motions meiner Meinung nach nur, wenn für die Debatte relevanten Eigenschaften des Akteurs unklar spezifiziert sind.“ – worin ich meine Definition von „unterbestimmter FPM“ sehr gut wiederzuerkennen glaube.
Aber es geht nicht darum, ob generell „mehr“ oder „weniger“ Leute X machen sollten, sondern darum, ob genau eine Person (nämlich das „Debatten-Ich“, DH) mehr oder weniger das machen sollte. Diese quantitative Frage ist doch aber in dieser Weise für beiden Seiten praktisch nicht zu beantworten. Aber selbst wenn, das ist keine Antwort auf die Frage, wie wir mit haecceitistischen Argumenten wie dem oben geschilderten umgehen, in denen man sich darauf verlässt, dass „die anderen“ non-X machen, und daraus ableitet, dass man selbst X machen sollte.
Jonathan, sagst du nicht selbst in deinem Artikel, dass sich das Problem eigentlich nicht stellt, wenn man keine unterbestimmten first person motions hat?