„Sollten Chefjuries Casefiles zu den Turnierthemen anlegen und veröffentlichen?“ – Jonathan Scholbach über das Pro und Contra von Casefiles
Beim Magdeburger Elbe Open 2013, das ich gemeinsam mit Jonas Werner chefjuriert habe, habe ich begonnen, unsere Themenideen mit Casefiles auf ihre Qualität zu prüfen. Ich habe das als sehr positives Instrument erlebt, die Themen auf ihre Turniertauglichkeit zu überprüfen. Insbesondere habe ich die Erfahrung gemacht, dass ein Thema der Überprüfung durch ein Casefile nicht standhielt, und das, obwohl wir intensiv darüber gesprochen hatten, und ich zumindest von Jonas sagen kann, dass er ein sehr erfahrener und dabei analytisch glasklar denkender Debattierer und Chefjuror (CJ) ist (und auch damals schon war). Mit der Casefilemethode, die klar die argumentativen Lücken des Themas aufgezeigt hatte, fiel es mir nicht nur psychologisch leichter, mich von einem liebgewonnenen Thema zu verabschieden, sondern es wurde mir auch ermöglicht, meinen Mit-CJ davon zu überzeugen, dass wir lieber ein anderes Thema nehmen sollten.
Die Veröffentlichung der Casefiles hatte ich vor Allem mit dem Ziel betrieben, den Raum für Kritik zu erweitern und sinnvoll zu strukturieren, um selbst einen maximalen Lerneffekt aus der Chefjurierung zu ziehen. Ich habe (leider) ausschließlich positives Feedback erhalten. Diese und vergleichbare Erfahrungen bei der Westdeutschen Meisterschaft 2014 in Münster haben mich in meiner Auffassung bestärkt, dass es sinnvoll ist, als CJ Casefiles anzulegen und zu veröffentlichen.
Nachdem die Methode mittlerweile auch von einigen (wenigen) anderen Chefjuries aufgegriffen worden ist, möchte ich die Argumente für und wider Casefiles diskutieren, die in den sehr scharfsinnigen und produktiven Diskussionen aufgetaucht sind, die bisher in der Kommentarspalte der Achten Minute geführt wurden. Zum Teil waren diese Diskussionen sehr von ihrem konkreten Anlass überschattet und beschäftigten sich sehr mit der Frage, wie die involvierten Personen zu bewerten seien, was mitunter von einer sachlichen Diskussion über die Casefiles ablenkte. Ich selbst habe leider auch zur Vermischung dieser Ebenen ungewollt beigetragen. Mit diesem Artikel will ich die Frage unabhängig von konkreten Turnierthemen und CJs einer zusammenfassenden Analyse zuführen – auch wenn natürlich das Interesse an besseren Turnierthemen immernoch den Ausschlag dafür gab, weshalb ich mich überhaupt mit der Frage beschäftige.
Meine Analyse mündet in den Appell, dass gerade unerfahrenere CJs Casefiles anlegen und diese nach dem Turnier veröffentlichen sollen. Es geht mir nicht darum, hier Werbung für eine verpflichtende Regelung zu machen.
Die Beweislast
Die Gewohnheit ist eine starke Beharrungskraft. Sie hat den positiven Effekt, dass Neuerungen kritisch geprüft werden, und sorgt damit dafür, dass auch wirklich nur Dinge geändert werden, die einen Fortschritt bringen und nicht ständig arbiträre Dinge ausprobiert werden, ohne dass sich daraus auch ein Fortschritt zum bisherigen Qualitätsstand ergibt. Diese Beharrungskraft ist damit eine notwendige Voraussetzung für Fortschritt. Sie kann aber auch ein Hemmnis des Fortschritts sein, wenn sie über das Ziel hinausschießt und von einer Beweislastverteilung ausgeht, die auch solche Maßnahmen ausschließt, die eine Verbesserung bringen würden. Das ist in den zitierten Diskussionen zum Teil geschehen.
Mitunter begegnet man in den Diskussionen Statements wie jenen, dass auch Casefiles kein „Allheilmittel“ gegen handwerkliche Fehler seien, oder dass es auch Fehlerquellen gäbe, die sich mit Casefiles nicht ausschließen ließen. Für die Beurteilung, ob der Schritt dazu, Casefiles anzulegen, ein Fortschritt ist, müssen aber „nur“ folgende zwei Fragen mit Ja beantwortet werden:
1. Verbessert es das Turniererlebnis für die Teilnehmer (im Schnitt), wenn die CJs Casefiles anlegt und sie hernach veröffentlicht?
2. Falls das der Fall ist: Stehen Aufwand und Nutzen in einem angemessenen Verhältnis?
Das Modell
Qualitätssicherung durch die CJ
Es besteht Konsens darüber, dass die Chefjury eines Turnier eine Verantwortung für die Themen trägt und dass die CJs gewillt sind, diese Verantwortung wahrzunehmen, indem sie sich frühzeitig und unter hohem persönlichen Einsatz mit der Themenfindung beschäftigen. Der international sehr erfahrene und rennommierte Debattierer Shengwu Li (Europameister von 2009 und bester Redner der Weltmeisterschaften 2010, unter Anderem CJ mehrer britischer IVs, sowie der Euros 2011) hat schon 2012 eine Liste veröffentlicht, die einige handwerkliche Fehlerquellen beim Setzen von Themen benennt. Diese Liste wird immer mal wieder verlinkt und ist bisher – soweit ich sehe – nicht kritisiert worden. Ich gehe davon aus, dass sie einen Konsens benennt, von dem ich ausgehe, um die Frage nach Schaden und Nutzen von Casefiles zu diskutieren.
Der Nutzen von Casefiles – Strukturierter Test
Ein gutes Casefile sollte die Themenformulierung enthalten sowie einen möglichen Antrag, bzw. die entscheidenden Definitionen der Debatte nennen. Außerdem sollte es einige Argumente für die beiden Seiten nennen, und zwar wenigstens fünf gute Argumente für jede Seite.
Damit bieten Casefiles einen strukturierten Zugang zu der Aufgabe, die Ausgewogenheit und Tiefe einer Debatte kritisch zu prüfen – eine der Grundanforderungen an die Prüfung eines Themas (Shengwu Li: „Test motions thorougly for balance and depth“). Eine Fehlerquelle beim Themensetzen besteht darin, dass die Chefjury die Unausgewogenheit eines Themas nicht erkennt. Wie das zustande kommt, wissen wir kaum, weil wir keinen öffentlichen Einblick in den Themensetzungsprozess haben. Wir können hier also nur spekulieren. Dennoch kann man benennen, wo Casefiles nützlich sein dürften. Beispielsweise fällt mit Casefiles leichter auf, wenn ein Argument lediglich eine neue Verkleidung eines anderen Arguments ist. Für Debatten im Format des British Parliamentary Stile (BPS) ist es aber wichtig, dass es sich um fünf „logisch distinkte“ Argumente handelt (Shengwu Li: „at least five logically distinct, individually persuasive arguments“). Denn ein Argument, welches lediglich ein bereits gehörtes Argument auf eine andere Betroffenengruppe überträgt, ist nicht geeignet, im Jurierprozess als ein relevanter neuer Beitrag bewertet zu werden. Ein solches Argument erhöht also die Tiefe des Themas nicht, sondern ist eher ein Blender bei der Prüfung des Themas.
Auch scheint es einen psychologischen Mechanismus zu geben, dass Chefjuries bei manchen Themen dazu tendieren, zu unkritisch mit der Ausgewogenheit umzugehen, weil sie fasziniert von der Erfahrung sind, dass sie ein überzeugendes Argument abseits des Mainstreams gefunden haben. Ich habe dieses Phänomen an mir selbst beobachtet, und es wird auch von Shengwu Li adressiert, wenn er mahnt: „Don’t set motions just because you can imagine yourself having a great time in Opening Government.“ Durch Casefiles kann dieser Fehler bis zu einem gewissen Grad behoben werden: Beim Aufschreiben ist ein imaginiertes Publikum stärker präsent, als wenn man nur untereinander diskutiert. Auf dieses imaginierte Publikum kommt es aber an, denn das werden am Ende die Leute sein, die das Thema auf dem Turnier debattieren werden.
All diese Dinge kann man selbstverständlich auch prüfen, ohne sie aufzuschreiben. Ich bin aber überzeugt davon, dass die Niederschrift schon allein aus Gedächtnisgründen sinnvoll ist: Wenn man für eine BPS-Debatte mehrere Definitionen klar haben muss und dazu für jede Seite prüft, ob es fünf gute Argumente gibt, und dazu noch, ob es für jedes Argument ein denkbares Rebuttal gibt, um silver bullets (das sind Totschlagargumente, die sich nicht widerlegen lassen) auszuschließen, dann erhält man eine relativ komplexe Struktur, die die Fähigkeiten eines gewöhnlichen Gedächtnisses (ich kann hier nur von mir schließen) überstrapazieren dürfte.
Gegen die Auflistung der Argumente in einem Casefile wird eingewandt, dass es nicht allein auf die Zahl der Argumente ankommen kann, sondern auch auf ihre Relevanz, ihre Qualität, ihre Komplexität und ihre Auffindbarkeit, wenn es darum geht, die Ausgewogenheit eines Themas zu bewerten. Diese Aussage kann ich uneingeschränkt zustimmen. Sie steht aber nicht im Widerspruch zu der These, dass Casefiles nützlich sind. Denn das Casefile sorgt nur dafür, dass eine Minimalbedingung erfüllt ist. Natürlich muss Chefjuries klar sein, dass sie die Argumente nicht nur aufschreiben, sondern auch inhaltlich prüfen müssen. Aber eine Chefjury, die das nicht macht, wäre wohl auch ohne Casefiles eine eher schlechte Chefjury. Um für Casefiles zu sein genügt es aber, wenn das Aufschreiben beim Prüfen hilft. Man darf hier die Beweislast nicht verwechseln: Casefiles sind kein hinreichender Garant für die besten Themen, aber sie sind ein sinnvolles Instrument, um bessere Themen zu bekommen.
Der Nutzen von Casefiles – Genauere Evaluation
All dies sind lediglich Argumente dafür, Casefiles anzulegen. Etwas anderes ist die Frage, ob es sinnvoll ist, dass Chefjuries diese auch veröffentlichen. Ich halte Casefiles grundsätzlich für ein gutes Instrument, um die ex-post-Evaluation von Themen zu strukturieren. So können statistische Auffälligkeiten in den Turnierrankings, die auf eine hinzuweisen scheinen, mithilfe der Casefiles in ein helleres analytisches Licht gerückt werden, weil die Frage, auf welche Weise der Fehler zustande kam, anhand von Casefiles besser beantwortet werden kann. Davon können insbesondere spätere CJs profitieren und die gesamte Szene kann aus den Erfahrungen vergangener Turniere lernen.
Auch die unmittelbare Evaluation der Turnierthemen kann durch Casefiles auf ein höheres Niveau gehoben werden: Gerade erfahrenere Debattierer haben vielleicht die Einstellung „Wenn ich in dieser Debatte keine Argumente sehe, dann gibt es keine.“ Bevor sie in die Debatte über die Themen des Turniers einsteigen, können sie mit der Konsultation des Casefiles prüfen, ob es nicht doch gute, grundsätzlich zugängliche Argumente gegeben hat, die einfach nur ihnen persönlich auf dem Turnier nicht eingefallen sind. Casefiles versachlichen damit die Evaluation von Turnierthemen.
Der Schaden von Casefiles
Bias der Chefjuries
In der Debatte um die Casefiles werden auch einige Schäden in Erwägung gezogen. Das in meinen schwerwiegendste Argument gegen Casefiles ist dabei das Argument, dass sie einen Bias der Chefjury nach sich ziehen könnten. Die CJs, so die Theorie, würde eigene Argumente positiver bewerten, als andere Argumente, die an sich valide sind, aber nicht im Casefile stehen. Debattieren würde so tendenziell zum Ratespiel „Was will die CJ hören?“ werden. Diese Theorie ist der empirischen Überprüfung grundsätzlich zugänglich. Aber die Theorie des Arguments steht auf wackligen Beinen:
Zunächst einmal ist nicht klar, warum der Bias durch Casefiles verstärkt wird und nicht vielleicht sogar verringert: Generell würde man eher davon ausgehen, dass die Voreingenommenheit für ein bestimmtes Argument sinkt, wenn man intensiver über ein Thema nachdenkt und dabei mehrere verschiedene Argumente erwägt.
Aber selbst wenn nicht auszuschließen wäre, dass die intensive Beschäftigung mit Themen einen Bias zugunsten der „eigenen“ Argumente bringt, so ist das zunächst einmal eine Art von Schaden, die wir heute schon in Kauf nehmen. Denn dieser Schaden ist weniger schlimm, als wenn wir ungeprüfte Themen debattieren müssten. Dies ist die Abwägung, die im Status Quo getroffen wird – ich halte sie für vernünftig und ich sehe auch niemanden, die bzw. der anderer Auffassung wäre und deshalb fordern würde, dass CJs nicht mehr über ihre Themen nachdenken sollten, die sie setzen. Für die Frage, ob Casefiles schädlich sind, muss man also die Frage beantworten: Wie sorgt das Erstellen von Casefiles für ein Mehr an Bias? Hier sind zwei verschiedene Möglichkeiten denkbar: Wenn Casefiles tatsächlich dazu führen, dass die Themen tiefgründiger durchleuchtet werden, und es einen Zusammenhang zwischen tiefgründigerer Durchleuchtung und verstärktem Bias gibt, dann wird der Bias erhöht. Dieser Schaden sollte aber der gleichen Abwägung folgen, wie im Status Quo. Wenn wir davon ausgehen, dass es irgendwo ein Gleichgewicht von wünschenswerter Durchdringungstiefe und Bias gibt, dann sehe ich kein Argument, dass dieses Gleichgewicht gerade im Status Quo getroffen wird und dass Casefiles die Prüfung der Themen verschieben hin zu dem Status, in dem ein Thema „zu intensiv“ geprüft wurde. Die Kritik an Themen sprechen eher eine andere Sprache. (Das ist deswegen vielleicht ein unfaires Argument, weil diese Kritik nicht zuletzt auch von mir selbst geäußert wurde und das Argument eine Art versteckte Eigenreferenz ist – was ich hiermit ausweisen will. Aber meiner Kritik ist in der Sache bisher nicht widersprochen worden.)
Die Theorie vom schädlichen Bias fußt also auf der Annahme, dass es einen zusätzlichen Bias durch Casefiles gibt, der unabhängig davon ist, dass das Thema genauer geprüft wird, sondern der allein durch das Aufschreiben zustande kommt. Ich habe keine Vorstellung davon, wie das zustande kommen soll; in der bisherigen Diskussion wurde auch kein Modell genannt, ich halte diese Annahme daher nicht für plausibel. Mit der Erfahrung, dass man beim Aufschreiben dazu tendiert, für ein imaginiertes Publikum zu schreiben, sehe ich eher einen Mechanismus, der einen Bias zugunsten eines bestimmten Arguments verringert.
Das Problem mit dem Bias besteht darin, dass es ihn auch ohne Casefiles gibt, und dass der spezifische Beitrag von Casefiles zum Bias unklar ist. Der Casefile-unspezifische Ausweg aus dem Bias-Problem – CJs, die weniger über Themen nachdenken – ist in meinen Augen nicht erstrebenswert. Bei all dem ist mir klar, dass die Bias-Frage eine empirische Frage ist. Aber solange die empirische Überprüfung aussteht, bin ich vom Bias-Argument nicht überzeugt.
Einschränkung der Kreativität
Ein ähnliches Argument ist die Befürchtung, dass Casefiles die CJs davon abhalten könnten, ausgefallenere Themen zu setzen, und die Kreativität gehemmt würde. Natürlich stehen die Kreativtität eines Themas und seine Ausgewogenheit in Konkurrenz. Vor dieser Abwägung stehen Chefjuries auch heute schon. Eine Casefile-unspezifische Antwort auf dieses Problem à la „Wir wollen, dass die Themen weniger ausgewogen sind, weil wir kreativere Themen wollen“, ist nicht sinnvoll. Wir wollen doch viel eher, dass die CJs Themen finden, die sowohl ausgewogen als auch kreativ sind. Wo im Konfliktfall das wünschenswerte Gleichgewicht dieser beiden Ansprüche liegt, wissen wir nicht und es gibt kein Argument dafür, dass wir im Status Quo näher an diesem Punkt wären, als mit Casefiles. Wenn Casefiles dafür sorgen, dass das eine oder andere sehr kreative Thema aussortiert wird, dann ist das für die Fans der kreativen Themen (zu denen ich mich selbst zähle) schade. Aber das Thema war dann eben auch unausgewogen.
Rechtfertigungsdruck der einfachen Juries
Ein weiteres Argument gegen die Veröffentlichung von Casefiles ist das Modell, dass die enttäuschten Verlierer einer Runde das Casefile studieren, darin ihre Argumente wiederfinden und nun den einfachen Juries die Hölle heiß machen, dass diese Argumente nicht honoriert wurden. Das Problem kann gelöst werden, wenn man den Status der Casefiles entsprechend kommuniziert. Sie sind nicht die geoffenbarte Weisheit und kein Argument gewinnt die Debatte, „weil es geschrieben steht.“ Das kann und sollte man immer dazu sagen, wenn man Casefiles veröffentlicht, und ich denke, dass diesem Fehlschluss damit wirksam vorgebeugt ist. In den (wenigen) Fällen von Turnieren, in denen die CJs Casefiles verwendet haben, scheint etwas in der Art noch nicht vorgekommen zu sein. Jedenfalls sehe ich keine Berichte von Juroren, deren Jurierung auf der Basis des Casefiles der Chefjury in Frage gestellt wurde.
Misstrauensvotum
Ein Argument gegen die Pflicht zur Veröffentlichung von Casefiles ist das Argument, dass diese Pflicht ein implizites Misstrauenszeugnis gegenüber den CJs ist und damit die Bereitschaft von sehr geeigneten CJs senken könnte, einen Chefjuryposten anzutreten – ein ernstzunehmender Verlust für die Szene und die Qualität der Turniere. Dieses Argument thematisiert das Verhältnis von Szene und Chefjurorenund spricht daher tatsächlich nur gegen eine Pflicht, nicht dagegen, Casefiles anzulegen und zu veröffentlichen. Wenn Chefjuries sich freiwillig entscheiden, ihre Cases zu veröffentlichen – etwa weil sie ein intrinsisches Motiv haben, kritisierbar zu sein –, dann ist darin kein Misstrauensvotum der Szene zu erblicken.
Der Aufwand von Casefiles
Im Themenfindungsprozess werden viele Themen aussortiert, in der Regel diskutiert die Chefjury eine viel größere Zahl von Themen, als am Ende benötigt wird. Wenn man ca. 30 – 40 Themenideen hat, wäre es ein sehr großer Aufwand, für jedes Thema ein Casefile zu erstellen. Das wäre ein Argument gegen Casefiles, weil er den ohnehin nicht gerade geringen Aufwand der Chefjury massiv erhöhen würde. Um den Nutzen der Cassefiles fruchtbar zu machen, genügt es jedoch bereits, sie in einem relativ späten Stadium des Themenfindungsprozesses anzulegen, als letzten kritischen Prüfungsschritt. Je nachdem, wie gut man vorher gearbeitet hat, fallen nun vielleicht noch ein bis drei Themen raus, weil sie doch nicht ausgewogen waren. Der Aufwand skaliert also mit dem Nutzen der Casefiles.
Ein Casefile zu einem Thema zu schreiben, über das man schon intensiv nachgedacht und sich in der Chefjura ausgetauscht hat, dauert (meiner Erfahrung nach) etwa anderthalb Stunden. Wenn es wesentlich länger dauert, weil niemandem ein viertes Argument für die Regierung einfallen will, dann kann das ein Indiz dafür sein, dass das Thema zu wenig Fleisch hat. Wenn man sich also in die Erstellung der Cases reinteilt, dann ist das ein Zusatzaufwand, der sich vertreten lässt, vor Allem weil die Chefjury – anders als bei Gesprächen – nicht gleichzeitig daran arbeiten muss, sondern sich in die Arbeit teilen kann.
Ob dieser Aufwand gerechtfertigt erscheint, hängt stark davon ab, wieviele Fehler man mit Casefiles aussortieren kann. Die Quote dürfte bei unerfahreneren CJs höher sein, als bei CJ-Profis. Das ist in meinen Augen ein Argument dafür, dass gerade eher unerfahrene Chefjuries auf Casefiles zurückgreifen sollten.
Placet experiri – Eine Lanze für die Empirie
In Debatten prüfen wir Argumente immer anhand ihrer ad-hoc-Plausibilität, weil wir keinen anderen Prüfmechanismus zur Verfügung haben. Deswegen tendieren Debattierende mitunter dazu, ihre sehr gut geschulte analytische Intelligenz auf ihre Probleme anzuwenden und sich in argumentative Höhen zu schrauben, und vernachlässigen dabei mitunter den Boden, auf dem das alles steht: die Erfahrung, welche allen Argumenten die Prämissen liefern muss.
Die theoretischen Grundlagen sind, wie sich an den obigen Argumentationen zeigt, mittlerweile ziemlich genau geprüft, da sich eine Menge sehr intelligenter Leute mit viel Debattier- und Chefjurier-Erfahrung in intensiver Diskussion damit beschäftigt hat. Weniger klar ist zur Zeit aber die Frage, welche Prämissen denn der empirisch zugänglichen Realtität entsprechen. Unsere Debatten-Sozialisation sollte uns nicht den Blick darauf versperren, dass neben ad-hoc-Plausibilität vor allem die empirische Überprüfung theoretischer Vorhersage ein wichtiges Mittel der Erkenntnis ist. Auch wenn wir nicht die Mittel haben, um etwa die Qualität von Turnierthemen mit psychologisch ausgefeilten Tests zu messen und dann den statistisch signifikanten Mehrwert von Casefiles zu ermitteln, sollten wir nicht aus dem Blick verlieren, dass die Frage, ob es mit oder ohne Casefiles besser geht, grundsätzlich der Erfahrung zugänglich ist. Schon aus diesem Grund glaube ich, dass wir mehr Chefjuries brauchen, die ein bisschen experimentierfreudig sind. Wir sind weit davon entfernt, den Nutzen oder Schaden von Casefiles empirisch abschließend evaluieren zu können. Da es aber auf der theoretischen Ebene viele gute Argumente für Casefiles gibt, ist es in meinen Augen vielversprechend, mit dieser Methode weiterzuarbeiten und Erfahrungen zu sammeln.
Jonathan Scholbach/ama
Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 10.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.
Jonathan Scholbach studiert in Jena Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaften und ist Präsident der Debattiergesellschaft Jena. Zusammen mit Friederike Meyer zu Wendischhoff und Severin Weingarten wurde er 2013 Regionalmeister. Er war Chefjuror des Magdeburger Elbe Opens 2013 und der Westdeutschen Meisterschaft 2014 in Münster. Jonathan ist Master-Trainer im Train-the-Trainer-Programm des VDCH.