Zwischen Rollenspiel und Realität: Willy Witthaut über Debattierthemen

Datum: 26. Februar 2014
Redakteur:
Kategorie: Jurieren, Mittwochs-Feature

Es ist schon verblüffend, was wir alles im Debattieren so fordern. Mal reden wir brennend für den vollständigen Laizismus in Deutschland, gelegentlich dafür, dass Bürger die Diäten von Politikern künftig bestimmen sollten, und manchmal (zumindest gerüchteweise) halten wir Plädoyers für den Einmarsch in Frankreich. Wunderbare Streitfragen für ein Hobby, das versucht, gesellschaftlich relevante Fragen von allen Seiten zu beleuchten. Das ist Demokratie und politische Bildung zugleich! Ein Grund, warum ich unser Hobby so schätze und leidenschaftlich ausübe.

Doch oftmals ist unser Spiel auch bitterernst, ziemlich direkt und hart. Es sind die Momente, in denen Chefjuroren Themen ausrufen, die uns erst einmal schlucken lassen. Dieses Haus würde iranische Atomwissenschaftler gezielt töten! Brauchen wir ein Menschenrecht auf Suizid? Ist es richtig, ein Menschenleben zu opfern, um viele zu retten?

Gepflegter Streit unterliegt gewissen Regeln, findet Willy Witthaut

Gepflegter Streit unterliegt gewissen Regeln, findet Willy Witthaut

Oftmals fallen uns solche „harten“ Themen schwer, weil abstrakte Argumente auf einmal mit unserer eigenen Realität verwoben werden und wir echte Menschen mit echten Geschichten vor Augen haben. In den Juroren- und Rednerschulungen verlangen wir deshalb von den Teilnehmer*innen, angemessen mit solchen Themen umzugehen. Besonders wird darauf geachtet, ob das Thema mit der nötigen Sensibilität angegangen und der „richtige Ton“ getroffen wird. Für die meisten klingt das jetzt selbstverständlich, jedoch liegt diesem Aspekt zu Grunde, dass wir gewisse moralische Standards haben, die wir nicht übertreten wollen. Ich bin der festen Überzeugung, dass alle Juroren bei dem Thema, ob Präimplantationsdiagnostik erlaubt werden sollte, einen Redner dafür abstrafen würden, dass er Menschen mit Behinderung als wertloses Leben bezeichnet oder gar mit Abfall vergleicht – unabhängig von seiner Argumentationsstruktur und Analyse und dem weiteren Verlauf der Debatte. Das ist auch verdammt richtig so!

In Debatten existieren bestimmte Standards, die als Basis dienen. Auf internationalen Turnieren heißt es meistens, dass (sofern in dem Thema keine Einschränkung oder Zusatz enthalten ist) man von einer westlich-liberalen Demokratie ausgeht. Das heißt, von einem Staat, der sich Menschenrechte zumindest auf die Fahnen schreibt und auch eine gewisse Vorstellung von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Freiheit hat. Debatten sind also meistens nicht als Diskurs im Vakuum zu verstehen, sondern an Rahmenbedingungen gebunden. Debatten über grundsätzliche Freiheitsrechte von Homosexuellen oder die Integration aller Religionen innerhalb unseres Staates führen wir nicht, da in unserem Kulturkreis der Diskurs bereits soweit fortgeschritten ist, dass wir gewisse Dinge als unverhandelbar ansehen.

Ich möchte mich nun mit der Frage auseinandersetzen, ob über die grundlegenden Standards hinaus weitere Einschränkungen vorhanden sein sollten. Dabei möchte ich zwei unterschiedliche Situationen betrachten: (I) Turnierdebatten sowie (II) Finaldebatten. Ein Statement vorweg: Ich stelle mich persönlich gegen fast jede Art der Tabuisierung! Alles sollte hinterfragt und diskutiert werden. Jedoch glaube ich, dass die Debatte in der kompetitiven und spielerischen Form nicht immer das geeignete Medium ist, einen Diskurs zu führen oder anzuregen.

(I)                 Turniere

Fast jeder ist schon einmal auf ein Thema gestoßen, bei dem ihm unbehaglich zumute war. Oftmals hat das unterschiedliche Gründe. Für die einen ist ein Thema unverständlich, andere empfinden ein gewisses Schamgefühl dabei, über explizite Dinge zu reden (siehe auch das Mittwochs-Feature der vergangenen Woche), bei anderen widerspricht die zugeloste Position der eigenen Vorstellung und Moral. Trotzdem verlangen wir von einem (guten) Debattanten, das nötige Abstraktionsniveau zu besitzen, um in kurzer Zeit eine valide Argumentation zu erarbeiten. Nichtsdestotrotz müssen wir uns der Situation bewusst sein, dass die Redner, im Gegensatz zur normalen Clubdebatte, nicht einfach aus der Situation ausbrechen können. Bei einer Runde nicht anzutreten, bedeutet in den meisten Fällen, den Break zu verpassen.

Meines Erachtens gibt es derzeit einen starken Diskurs darüber, was ausgeglichene Themen sind und wie wir sie finden. Zwei Kriterien werden dabei oft außer Acht gelassen: Scham und Betroffenheit. Nicht nur Intuition und das Vorhandensein von Argumenten für beide Seiten machen ein Thema gut debattierbar, sondern auch Empathie und die Möglichkeit der Abstraktion. Ähnlich wie in einem Kriminalfall agieren Debattanten wie Inspektoren bei der Suche nach einem Täter. Wir kennen Profile von bestimmten Typen (Argumentationsmuster) und versuchen, in den Kopf des Täters (Position) zu schlüpfen, um diesem auf die Schliche zu kommen.
Bei Themen mit Betroffenengruppen  fällt es Einzelnen oft schwer, sich in eine andere Position hineinzuversetzen. Zu Streitfragen wie Sterbehilfe, Suizid und ähnlichem machen Individuen häufiger Erfahrungen, als es den meisten vielleicht bewusst ist. Trotzdem sind sie gezwungen, in der Debatte davon Abstand zu gewinnen. Manchmal sind diese Hürden sehr hoch und können nur schwer überwunden werden. Gerade weil das Debattieren nur ein Rollenspiel ist, sollten sich Juroren bei der Formulierung von Themen Gedanken darüber machen, dass neben dem Thema selbst auch die Teilnehmer Bestandteil einer ausgeglichenen Debatte sind. Vielleicht ist es nur Zufall, dass ich selbst bei solch sensiblen Themen immer in Räumen gesessen habe, in denen einzelne Teilnehmer individuelle Erfahrungen und die Abstraktheit einer Debatte vermischt haben. Aber aus dem, was ich persönlich wahrgenommen habe und was in Gesprächen mit diversen Debattanten im Vorfeld dieses Artikels aufgekommen ist, vermute ich, dass diese Fälle häufiger vorkommen, als man vermuten würde. Aus Respekt vor der Realität sollten wir Debattanten nicht in Situationen bringen, die sie nicht meistern können, ohne sich selbst damit ein Stück weit zu verraten.

Ich möchte damit nicht sagen, dass wir bestimmte Themen nicht debattieren sollten, sofern jemand betroffen sein könnte – Betroffenheit ist fast immer möglich –, aber Juroren sollten sich zumindest Gedanken über die Perspektive der Teilnehmer bei der Findung und Setzung von Themen machen. Oftmals lassen sich gleiche Streitpunkte mit anderen Fragestellungen behandeln. Ziel eines Themas darf und sollte nicht sein, dass sich Redner dafür schämen, für oder gegen eine bestimmte Position argumentiert zu haben. Das hat wenig mit politischer Bildung und Demokratie zu tun. Manchmal ist unser Spiel eben auch harte Realtität. Jeder, der schon einmal mit einem schlechten Gefühl aus einer Debatte gegangen ist, nur, weil er eine bestimmte Position einnehmen musste, wird verstehen, was ich aussagen möchte.

Wichtig hierbei ist aber, dass die Verantwortung nicht nur bei den Juroren liegt, sondern bei allen Teilnehmern einer Debatte. Genauso wie Juroren bei der Setzung von Themen Respekt vor den Rednern haben sollten, sollten umgekehrt alle mit einem gewissen Respekt an Themen herangehen. Das Motto bei Argumentationen „Wir machen es, weil wir es können“, das jegliche Scham und Empathie vor Individuen bewusst ablegt, ist ein Verhalten, das immer wieder (als Witz) zynisch verwendet wird. Dieses Verhalten sollte missbilligt werden.

(II)               Finalveranstaltungen

Finalveranstaltungen haben die Besonderheit, dass Debatten vor Publikum stattfinden. Die Problematik besteht darin, dass selbst mit den Hinweisen, die in der Moderation  gegeben werden, gelegentlich der Fall auftritt, dass Zuschauer nicht verstehen, dass es sich um ein Spiel beziehungsweise zugeloste Positionen handelt. Gleichzeitig bestehen zu einzelnen Streitfragen klare öffentliche Meinungen oder Wahrnehmungen. Die Folge ist, dass viele Redner das Gefühl haben, gegen das Publikum reden zu müssen. Die Situation erzeugt Druck und gibt einem Team einen klaren Vorteil. Immerhin ist es leichter, in Situationen der Nervosität vom Beifall des Publikums getragen zu werden, statt einer kritisch schauenden Masse in die Augen zu blicken. Vor Publikum zu stehen, ist keine Alltagssituation. Deshalb ist es schlicht unfair, wenn ein Team allein schon dafür Beifall bekommt, dass es sagt, dass jedes Menschenleben unendlich viel Wert ist, während die andere Seite dagegen argumentieren muss und dafür höchstens ein Nicken eines befreundeten Debattanten in der dritten Reihe erhält. Um so eine Situation zu meistern, braucht es neben rhetorischer Finesse und inhaltlicher Cleverness sehr viel Erfahrung. Solch eine Situation mehrfach zu erleben, ist aber den wenigsten Finalisten vergönnt.

 Auslöser von Frust und Enttäuschung: Unausgewogene Finalthemen:

Auslöser von Frust und Enttäuschung: Unausgewogene Finalthemen

Ich selbst war Teil einer Chefjury, die solch ein Thema gestellt hat. Im Finale der Westdeutschen Meisterschaft 2013 wurde das Thema „Sollen Homosexuelle das volle Adoptionsrecht erhalten?“ debattiert. Die Meinung des Publikums (Pro) war eindeutig herauszulesen. Nachdem das Ergebnis verkündet wurde und die Opposition den Sieg errungen hatte, schüttelten sogar einzelne Teilnehmer der Ehrenjury den Kopf und reagierten entrüstet. Dass solch eine Position eine Debatte gewinnen könne, sei ungeheuerlich, war der Tenor der Kritik.
Im Nachhinein bereue ich persönlich, dieses Thema im Finale mitgetragen und ausgewählt zu haben. Auch wenn die Opposition gewonnen hat, so ist der öffentliche Diskurs keine ausgeglichene Debatte. Natürlich gibt es Argumentationsmuster für beide Seiten, die eine spannende (und alles andere als polemische) Debatte zulassen, jedoch bleibt für eine Seite immer ein Geschmäckle. Gerade wenn über gezielte Tötung, Menschenleben oder Gleichberechtigung gestritten wird, dürfen wir nicht vergessen, dass sich Argumentationen und öffentliche Wahrnehmung häufig klar unterscheiden. Der Zuschauer bewertet Argumente nicht nur nach Analyse, sondern auch nach Gefühl und persönlicher Erfahrung. Faire Finaldebatten sind öffentliche Diskurse, die kontrovers in allen Gesellschaftsschichten geführt werden, auch wenn sie manchmal etwas „langweilig“ erscheinen.

Zu guter Letzt möchte ich noch eine persönliche Anmerkung machen: Debattanten haben den Drang, immer anspruchsvollere und ungewöhnlichere Themen zu stellen, interessante und vielschichtige Clashes zu basteln, und haben Spaß daran, Argumente zu (de)konstruieren. Natürlich sind das gute Eigenschaften! Deswegen betreiben wir ja auch unser Hobby. Doch man sollte sich bewusst sein, dass wir mit jedem Wort, das wir sagen, und jedem Argument, das wir konstruieren, dieses auch ein Stück real werden lassen. Nur weil wir es können, heißt es nicht immer, dass wir es sollten. Was das bedeutet, muss am Ende jeder für sich selbst beantworten.

Willy Witthaut/kem/hug

Mittwochs-Feature

Das Mittwochs-Feature: Jeden Mittwoch ab 9.00 Uhr stellt das Mittwochs-Feature eine Idee, Debatte, Buch oder Person in den Mittelpunkt. Wenn du selbst eine Debatte anstoßen möchtest, melde dich mit deinem Themen-Vorschlag per Mail an team [at] achteminute [dot] de.

Willy Witthaut war Sieger der ZEIT DEBATTEN Dresden 2014 und Magdeburg 2012 sowie des Schwarzwald-Cups 2013. Als Chefjuror trat er u.a. bei der ZEIT DEBATTE Hamburg 2012, der Westdeutschen Meisterschaft 2013 und dem Streitkultur-Cup 2013 in Erscheinung. In der Amtszeit 2011/12 war er Präsident des Debattierclubs Johannes Gutenberg e.V. Mainz, zuvor stand er als Präsident dem Debattierclub Goethes Faust e.V. Frankfurt vor. Er war Cheforganisator des Gutenberg-Cups 2011 und des Schobbe-Cups 2009. Derzeit studiert er Politik und Biologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.

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15 Kommentare zu “Zwischen Rollenspiel und Realität: Willy Witthaut über Debattierthemen”

  1. Ich stimme Willy, insbesondere mit Blick auf Finaldebatten, völlig zu. Ich durfte in Finals bereits die Frauenquote für Vorstände und Aufsichtsräte von DAX-Unternehmen ablehnen (wir drei Jungs gegen ein Mixed Team), Uiguren aus Guantanamo wieder nach China schicken wollen und die besagten Adoptionsrechte für homosexuelle Paare bekämpfen. Unabhängig von Gewinnen oder Verlieren und auch wenn dem sicher ein Übungseffekt innewohnt: Schön ist es nicht, der Fiesling für 300 Leute zu sein. Insbesondere, wenn durchaus die Gefahr besteht, dass eilige Journalisten in der Berichterstattung nicht ganz richtig darstellen, dass man nicht im Ernst einer ist. Das bedarf eines dicken Fells, das (jedenfalls bei mir) erst mit der Zeit wuchs.

    Ich möchte noch einen Aspekt beisteuern, der zu dem Kontext gehört: Nach meiner Ansicht bergen solche Themen mit einer eindeutigen moralischen Oberhoheit einer Seite auch eine Gefahr für diese vermeintlich überlegene Seite. Sie muss sich wirklich anstrengen, nicht argumentativ stehenzubleiben und sich darauf auszuruhen, die „Guten“ zu sein. Die „Bösen“ verspüren von selbst von Anfang an, dass sie eine besondere Darlegungslast trifft, weshalb die „gute“ Seite gegen einen allgemein geteilten Wert verstößt. Sie werden einen vielleicht letztendlich nicht überzeugenden, aber immerhin nicht offensichtlich unplausiblen Mechanismus erdenken. Außerdem können die „Guten“ moralisch (aus Sicht des Publikums) nur verlieren: Entweder sie erfüllt die Erwartungen oder verliert („Wie kann man nur auf der Position verlieren?“).

  2. Julian Ohm sagt:

    Ich möchte Willi in den fast allen Punkten zustimmen. Allerdings in einem Widersprächen. Ich glaube nicht, dass die meisten JurorInnen mit verbalen Ausrutschern oder kalkulierten Übertreten von Grenzen immer richtig umgehen. Ich vermisse häufiger in der Jurierung, dass explizit rassistische, krass diskriminierende oder beleidigende Äußerungen gerügt werden. Dies auch wenn es vielleicht nicht direkt in die Jurierung mit eingeflossen ist. Dies würde gerade unerfahrenen RednerInnen dabei helfen ein Gespür dafür zu bekommen, was im Bereich des erlaubten ist und was man besser nicht sagen sollte. Ich weiß, dass es ein bisschen so klingt, als wollte ich die Redefreiheit in Debatten etwas einschenken, aber ich bin überzeugt, dass gute Sprache eine Debatte immer besser macht und das man in einen starken Raum nie mit Rassismus oder Beleidigungen gewinnt, dann kann man es auch gleich richtig lernen. Zudem glaube ich auch, dass einigen Redner mach mal die Problematik ihrer Äußerung gar nicht bewusst ist (passiert mir auch), hier gilt es zu sensibilisieren. Zuletzt sollten wir uns fragen, wie wir zu einer besseren Debattierkultur beitragen können und klar, da sollte es wenig Tabus geben, aber trotzdem müssen wir deshalb nicht alles erlauben oder gar gut finden.

  3. Barbara sagt:

    Ein sehr guter, differenzierter Artikel, dem ich voll zustimmen möchte. Ich hoffe sehr, dass wir nicht wieder (wie letzte Woche) hier im Kommentarbereich eine Reduzierung der Komplexität erleben auf „moralisch schwierige Themen sollten verboten werden“. Wie auch letzte Woche finde ich die Erinnerung, dass wir unseren Sport nicht in einer abgeschlossenen, abstrakten Blase betreiben sollten, sehr wichtig: Auch wenn wir von persönlichen Meinungen und Vorstellungen abstrahieren müssen, bleiben wir Menschen und debattieren innerhalb eines Werte- und Erfahrungskontextes. Eine völlige Loslösung hiervon und ein daraus resultierendes Debattieren im luftleeren Raum (= „Debateland“?) mag einigen in der Szene liegen und gefallen, aber ich glaube, dass es dem Debattiersport auf lange Sicht gesehen weder inhaltlich gut tun wird, noch zu seiner Verbreitung beitragen wird. Von den persönlichen Schwierigkeiten, die dies einigen Debattanten bereiten mag und die Willy hervorragend herausarbeitet, ganz zu schweigen.

  4. Sarah Kempf sagt:

    Wir freuen uns über rege Diskussionen, werden aber nicht müde, zu betonen: Wer auf der Achten Minute kommentiert, muss kenntlich machen, wer er ist. Wie schon vergangene Woche, werden wir auch dieses Mal nach unserem Hinweis kommentarlos löschen, was ausschließlich unter dem Vornamen, den Initialen, unter einem Phantasienamen etc. gepostet wird.

  5. Barbara (HH) sagt:

    @Sarah: Entschuldigung, ich habe das (HH) schlicht vergessen und konnte es hinterher mangels Änderungsfunktion nicht nachtragen…

  6. Nicolas F. (Göttingen) sagt:

    Ich muss dir leider widersprechen Willy, ich halte es gerade für unerlässlich dass im Debattieren hinter die Fassade des (scheinbar) Richtigen und Guten geschaut wird und eben gesetzte Moralstandards (Folterverbot, Todesstrafe etc.) hinterfragt und gut begründet werden müssen. Es stimmt das in Finalveranstaltungen es teilweise schwierig sein kann als Teilnehmer gegen ein Mainstream-Publikum zu argumentieren. Aber nur so können die Zuschauer auch etwas über sich selber lernen. Ganz ehrlich, ich habe schon gute und böse Positionen in Finals vertreten und hatte Publikum dass aufgeschlossen war und ein gutes Argument zu schätzen wusste egal ob es ihrer Meinung entsprach oder nicht. Und ich hatte Idiotenpublikum dass einfach nur zur Selbstbestätigung geklatscht hat. Das können sie gerne machen, aber für solche Leute halte ich keine Reden und wenn ihnen das was ich erzähle nicht gefällt haben sie Pech. Im Übrigen können sie probieren selber ein so guter Rhetoriker zu werden damit sie selber oben stehen und nicht als dumpfes Klatschvieh im Zuschauerraum zu sitzen dass seine eigene Bräsigkeit feiert.
    Ich halte es gerade für geboten dass moralische Standards beim Debattieren hinterfragt werden damit man sie im Zweifel auch begründen kann und nicht nur einfach dumpf sagt: Das ist jetzt aber so!

    Zu dem Homo-Adoptionsthema bei den Regios im letzten Jahr: Wir haben ja eine Telko gemacht wo sich alle Chefjuroren besprochen haben und ich glaube immer noch wie damals, dass dieses Thema relativ balanced ist. Und dass man die Frage des Kindeswohls auch als OPP sehr wohl so münzen kann, dass man in diesem Bereich das Publikum hinter sich hat. Vielmehr glaube ich das vornehmlich die Leute nicht die Fähigkeit hatten dass Publikum mitzunehmen. Das ist allerdings ein rhetorischer Mangel des Redners und nicht die Aufgabe der CJ Themen zu stellen in denen sich eben jener Redner im moralischen Mainstream sonnen kann.
    Ich bin fest davon überzeugt dass ein sehr guter Redner ein Publikum hinter sich bringen kann egal ob er gut oder böse argumentiert. Hab ich im übrigen auch schon selbst erlebt.
    Daher liebe Finalredner: Besser werden, dann werdet ihr auch bei nicht so eingängigen Themen nicht ausgebuht.

  7. Sven (HD) sagt:

    Endlich mal Rappel inne Bude! 🙂 Danke dafür, Nico.

    Inhaltlich hast Du aber Unrecht:
    1. Dass so auserlesene Koryphäen wie Du es vermögen, Kardinäle für freie Liebe zu begeistern, ändert nichts daran, dass das schwerer ist, als sie für die Keuschheit vor der Ehe ein deo gratias singen zu lassen. Das Finale ist aber ist eine Wettkampfsituation, zu der es gehört, dass beide Seiten (optimalerweise, jedenfalls möglichst nahe dran) die gleiche Chance haben. Nur dass der mit der schwierigeren Ausgangssituation auch gewinnen *kann*, heißt nicht, dass die Chancen gleich verteilt sind. Die Fußballmannschaft kann auch in Unterzahl Tore schießen und gewinnen, ausgeglichen ist es aber nicht.

    2. Debattieren sollte mE Überzeugen sein und nicht in ein intellektuelles Ping-Pong. Überzeugend wird es, wenn ich für die EmpfängerInnen rede. Das sind in Vorrunde 2 als im Finale und wieder andere als auf dem Fußballplatz, in der Kneipe oder im Philosophie-Seminar. In dem Moment, in dem ich mich auf den Standpunkt stelle, ich rede nur für die, die denken wie ich, sehe ich die Chancen zu überzeugen bei vielen drastisch eingeschränkt. Zum Überzeugen gehört es, zu erkennen, was das Gegenüber abkauft und was nicht, und darauf aufzubauen. Ansonsten müsstest Du konsequent in jeder Rede bis zum kartesischen Zweifel fragen und dann im Nirvana enden oder Dir winzige Teekannen ausdenken, die um die Sonne fliegen. (Was ist überhaupt „gut“? Und wozu muss etwas „gut“ sein?)

  8. Jonathan Scholbach sagt:

    Ich verstehe den Artikel nicht. Was ist es genau, dass Du willst, Wily? „Ich möchte damit nicht sagen, dass wir bestimmte Themen nicht debattieren sollten, […] aber Juroren sollten sich zumindest Gedanken über die Perspektive der Teilnehmer bei der Findung und Setzung von Themen machen“ – wie kann das eine relevant sein, ohne das andere zu implizieren? Warum soll man sich Gedanken darüber machen, wenn es am Ende nicht dazu führen soll, dass das Thema rausfliegt. Hier wäre eine klarere Positionierung des Artikels hilfreich, um die Diskussion zu strukturieren.

  9. Witthaut sagt:

    Ganz einfach Jonathan: Themen sollten ggf. rausfliegen. Eine Grenze ist meines Erachtens aber nicht genau definierbar. Es gibt kein klares Kriterium, das auf alle Fälle zutreffend ist. Aber alleine, wenn sich Juroren bewusst machen, dass es neben der argumentatorischen Auseinandersetzung noch weitere Ebene existieren, die relevant sein können für Debattierthemen, macht die Sache schon besser. Wenn es etwas gibt, „dass ich will“, dann die Tatsache, das die Blase „Debateland“ (Danke, Barbara!) nicht Anspruch des Debattierens sein sollte.

  10. Witthaut sagt:

    @Nicolas: Sorry, wenn das falsch rübergekommen ist. Ich fande unseren Prozess, wie wir das Thema entschieden haben, vollkommen in Ordnung und ich finde bis heute, dass es eine durchaus interessantes Debattierthema ist, das viel Platz für beide Seiten lässt. Im Nachhinein bin ich nur der Auffassung, dass im Rahmen einer Finaldebatte, dieses Thema einem Team einen schwereren Stand zuteilt. Ähnlich wie in Svens Beispiel heißt das noch lange nicht, dass das Thema nicht gewinnbar oder komplett unfair ist für eine der beiden Seiten, jedoch sind die Startvoraussetzungen unterschiedlich. Dementsprechend ist das keine Kritik an die anderen Chefjuroren der Regionalmeisterschaften, noch eine Kritik an das Verfahren. Allein aus der Erfahrung mehrerer Finaldebatten komme ich persönlich für mich zu dem Ergebnis, das ich dieses explizite Thema nicht mehr als Finalthema stellen würde!

  11. Michael S sagt:

    Ich bin der Auffassung, dass beschriebene Themen, die ein Ungleichgewicht in der wahrgenommenen moralischen Deutungshohheit haben, es der „Benachteiligten“ Seite leichter machen können.

    Diese Themen sind häufig ausgeglichen (sonst war das CJ Team inkompetent), aber oft fällt es Juroren schwer sich von ihrer Vormeinung zu lösen oder sie werden durch die ablehnende Stimmung des Publikums beeinflusst. Der vermeintliche Nachteil wird dann versuchsweise in der Jurierung aufgefangen. Dies lässt sich aber häufig nicht bewerkstelligen, steuert also oft über. Sollte das Thema tatsächlich ausgeglichen gewesen sein, führt es zu einer Bevorteilung der „schwereren“ Seite.

    Sehr gute Redner modellieren das in ihre Reden hinein, indem sie die Stimmung des Publikums erahnen oder es manchmal einfach klar ist, dass man die Ekelposition hat.
    Signalphrasen sind dann so was wie: „Es ist natürlich schwer für diese unsympathische Seite zu argumentieren.“, „Als ich das Thema zum ersten Mal sah, musste ich schlucken…“, „Niemand sollte diese Seite vertreten müssen, aber…“, „Die andere Seite stellt uns als Monster dar, …“, „Natürlich haben wir die viel schwerere Seite in dieser Debatte, denn alles was wir sagen…“

    Durch dieses Fischen nach Sympathie verkehrt sich häufig die Wahrnehmung innerhalb der Debatte, weil auf einer subtilen Metaebene aus dem Debattenrahmen herausgetreten und signalisiert wird, dass das Thema unfair gestellt wurde, ein krasser Nachteil vorliegt und das doch bitte berücksichtigt werden soll. (Dafür habe ich auch meinen eigenen Slang: Metaebene-Sympathiefischer.)

    Die Zuschauer verstehen natürlich, dass es eine Art Spiel ist. Niemand will, dass jemand, der unfairerweise am Boden liegt, weiter verprügelt wird, weswegen sie der schwereren Seite einen „Bonus“ einräumen. Hier beißt sich nun die Katze wieder in den Schwanz. Sollte das Thema ausgeglichen gewesen sein, dann verschlimmbessert der Bonus diese.

    Ehrenjuries, die das nicht durchschauen, wenden sich dann oft dem Underdog zu, um das Spiel auszugleichen.
    Die eigentliche Jury hat es dann häufig schwer sich vollkommen zu lösen von der Stimmung, etc. Jeder vermeintliche Underdog, der es schafft sich „hochzuarbeiten“, wird implizit honoriert. (Das ist auch der Plot vieler erfolgreicher Hollywood-Filme).
    Wer es schafft sich vom „Ekelteam“, das Kinder fressen will, zum „Benachteiligtenteam“, das wirklich alles versucht hat in einer ausweglosen Lage, zu wandeln, zeigt eine tolle Dynamik, die fast immer einen Eindruck hinterlässt.
    Die andere Seite hat diesen Luxus oft nicht und ist statisch auf einem hohen moralischen Niveau, zeigt keine Entwicklung, will nicht so sehr gewinnen wie die andere Seite.
    Solche Situationen erfordern eine sehr gute Jury, die sich zurücknimmt und wirklich nur die Fakten deutet, wie sie sie sind.

    Dies ist mittlerweile ein Grund, warum ich in Finals lieber die vermeintlich schwerere Position vertrete. Bei richtiger Handhabung hilft sie eine schöne Spannungskurve zu konstruieren.

    Think about it.

    Beste Grüße
    Michael

  12. Jonathan Scholbach sagt:

    Ich finde, es sollte zwischen Finalthemen und Vorrundenthemen nicht hinsichtlich der politischen Korrektheit unterschieden werden. Wir sollten im Finale sagen: Schaut her, das ist unser Sport. Wenns gefällt, dann gut – wenn nicht, dann auch in Ordnung.
    Nicolas zuzustimmen fällt intuitiv schwer, weil jeder sicherlich irgendwo eine persönliche Grenze hat. Aber ohne Ansehen des konkreten Themas finde ich Nicolas Argumente sind überzeugend. Wir sollten lernen, auch „komische“ Positionen zu vertreten. Schon weil man dadurch lernt, wie Demagogen (was immer das auch ist) vorgehen, und auf welche Weise man sie wiederlegen kann, und auf welche Weise nicht.
    Es ist, glaub ich, auch wichtig, zu bemerken, dass man durch ein Thema noch nicht auf eine bestimmte Argumentation festgelegt wird – Die Begründung einer gruseligen Motion muss nicht selbst gruselig sein.

  13. Jonathan Scholbach sagt:

    PS. @ Sven: Ausgewogenehit sollte meiner Meinungn nach Gewicht und Anzahl der Argumente geprüft werden, nicht danach, ob sie schön klingen.

  14. Sven (HD) sagt:

    Lieber Jonathan,

    die Ausgewogenheit sollte nach den Möglichkeiten, die AdressatInnen zu überzeugen, beurteilt werden. Dabei spielen Gewicht und Anzahl der Argumente zwar eine ganz wesentliche Rolle, sind aber nicht alles. Ich kann noch so sehr Recht haben, wenn es bei den AdressatInnen – vulgo: dem Publikum – nicht ankommt, bleibt es nichts als eine intellektuelle Übung, die zwar sehr nett ist, aber nur ein Bruchteil dessen, was Debattieren ausmacht. Gerade, wenn Du die Funktion des Debattierens als Mittel zur Auseinandersetzung mit extremistischen Positionen ansprichst: Was bringt es, wenn Du die fehlerhafte Argumentation genau durchschaust, die Masse ihr aber trotzdem zujubelt, weil Du Deinen (richtigen) Punkt nicht durchbringen konntest? Nichts.

    Der menschliche Geist, auch der des Publikums, ist nun einmal kein Computer, der die Argumente abwägt und rein rational kalkuliert. Das akzeptieren wir auch, wenn wir zB in OPD die linken drei Kategorien oder auch im BP die Form (wenn auch in geringerem Maße, aber immerhin) als Kriterium anerkennen. Wenn wir aber akzeptieren, dass außer dem reinen Sachargument noch mehr zum Überzeugen notwendig ist, dann wäre es weltfremd, wenn dieses „Mehr“ nicht von der persönlichen Einstellung des Publikums beeinflusst würde. Sicher – manch eineR ist offener, mancheR verbohrter. EinE geübteR JurorIn wird besser abstrahieren können, als ein sich zufällig in das Finale verlaufendes Stammtischgeschwister. (Daraus ergibt sich auch, dass Vorrunden und Finals andere Anforderungen haben, weil nämlich das Publikum anders zusammengesetzt ist.) Dennoch ist dieser Einfluss immer da. Damit nimmt er Einfluss auf die Chancengleichheit in der Debatte. Die sollte in einer Debatte – zumal in einem Finale – gewahrt bleiben.

    Viele Grüße

    Sven

  15. Manuel A. (HB) sagt:

    Zeigt das obere Bild eigentlich Willy beim Finden, dass gepflegter Streit gewissen Regeln unterliege – oder ist das die Illustration des gepflegten Streites selbst, von dem Willy findet, dass er gewissen Regeln unterliege?

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