„Du musst bereit sein, dich auf sehr harte Geschichten einzulassen“: Pauline Leopold über das Debattieren an einer Brennpunktschule
Dass Debattieren beim Karrieremachen helfen kann, ist längst ein offenes Geheimnis. Aber hilft Debattieren auch am unteren Rand der Gesellschaft? Pauline Leopold arbeitet seit Herbst 2012 als Fellow der Bildungsinitiative Teach First, bei der Berufseinsteiger zwei Jahre lang an einer Schule in einem „sozialen Brennpunkt“ eingesetzt werden. Ein Lehramtsstudium müssen die Bewerber nicht absolviert haben. Mit der Achten Minute sprach Pauline über Anerkennung, Bildungssprache und Parallelwelten.
Achte Minute: Pauline, wie bist du auf die Idee gekommen, bei Teach First zu arbeiten?
Pauline Leopold: Ich habe 2009, als Teach First in Deutschland gegründet wurde, ein Praktikum in der Integrationsstabsstelle der Landesregierung in Stuttgart gemacht und bin im Zuge einer Recherche darauf gestoßen. Das Projekt fand ich sofort super. Ich wollte mit Kindern zusammenarbeiten, die das Gefühl haben, eigentlich gar keine Möglichkeiten zu haben, die desillusioniert sind und glauben, dass niemand an ihnen Interesse hat, selbst wenn sie den Hauptschulabschluss haben. Ich selbst habe das Gefühl, unglaublich viele Möglichkeiten zu haben, und wollte ihnen den Sinn für das Mögliche vermitteln.
AM: Du hast kein Lehramtsstudium absolviert. Was sind deine Aufgaben an der Schule?
Pauline: Ich unterrichte als Fächer hauptsächlich Mathematik und Deutsch. Zusätzlich biete ich beispielsweise Einzel- und Kleingruppenförderung an, und eben Debattieren. Bei uns ist es angelehnt an Jugend debattiert. Meine Schüler*innen haben aber etwas kürzere Redezeiten und der Aufbau orientiert sich nicht ganz so sehr an Formalitäten und Aufgaben wie etwa die Rollenerfüllung der einzelnen Redner. Stattdessen geht es vor allem um Grundsätzliches, etwa Argumente zu finden und zu formulieren, oder darum, was der Unterschied zwischen Behaupten und Begründen ist.
AM: Was bringt deinen Schülern das Debattieren?
Pauline: Meine Schüler debattieren gerne, weil sie sich selbst dabei ganz neu wahrnehmen. Es ist für sie eine erstaunliche Erfahrung, gut anzukommen als Jemand, der Argumente für etwas bringt, statt gut anzukommen als Jemand, der seinem Nebenmann eins draufhaut. Das klingt vielleicht platt, aber es ist tatsächlich so. Die Selbstwirksamkeitserfahrung durch Argumente ist für die Kinder etwas, was sie so sonst nicht kennen.
AM: Wie läuft dein Debattier-Workshop ab?
Pauline: Ich habe ihn eintägig konzipiert, weil ich ihn auch an anderen Schulen in Baden-Württemberg anbiete, an denen Fellows eingesetzt werden. Wir wollen uns im kommenden Jahr mit den Schülern, die mitgemacht haben, zu einem Fellowschul-internen Turnier treffen, weil die Teilnahme bei Jugend debattiert leider sehr viele Formalitäten erfordert, die zu erfüllen ich zeitlich nicht mehr schaffen werde. Deswegen gehen wir diesen unbürokratischen Weg und ermöglichen den Schülern, auf einem Turnier zu sprechen.
Beim Debattieren machen wir kleine Schritte, vom Abbauen der Redeangst über das Finden bis hin zum Widerlegen eines Arguments. Die Schüler, die sich am Ende trauen, vor dem Rest der Klasse zu debattieren, die finden alle cool: Die Mitschüler, die Lehrer und sie sich selbst dann auch. Es hat Spaß gemacht, das mit den Schülern zu erleben.
AM: Helfen dir deine Debattierfähigkeiten bei der Arbeit als Fellow?
Pauline: Es ist natürlich angenehm, dass es mir Spaß macht, vor Gruppen zu sprechen. Schlagfertigkeit ist gegenüber Schülern auch hilfreich. Wenn du mit Humor auf sie eingehen kannst, freuen sie sich meistens. Wenn sie denn den Humor verstehen! Was sie häufiger leider nicht tun. Besonders den Kleineren braucht man mit ironischen Bemerkungen nicht zu kommen, da schauen sie dich nur entgeistert an.
AM: Kommt dein Humor nicht an, weil du Bildungssprache verwendest?
Pauline: Ich habe aufgrund meiner verschachtelten Art zu sprechen tatsächlich lange daran arbeiten müssen, Dinge so in Worte zu fassen, dass sie verstanden werden. Zum Beispiel Arbeitsanweisungen. Wenn ich jetzt mit Studierenden arbeite, ist es herrlich. Die wissen gleich, was ich meine. (lacht) Das war bei den Schülern am Anfang nicht so. Am besten keinen Nebensatz, sondern in einfachen, kurzen Hauptsätzen Arbeitsanweisungen formulieren, sie mindestens zwei- oder dreimal nennen und noch visualisieren, also genau aufschreiben, was sie machen sollen.
AM: Bei dir klingt das alles ziemlich einfach.
Pauline: Es funktionieren auch oft mal Sachen nicht. Man lernt, dass nicht alles in der eigenen Hand liegt. Es hängt viel den Kindern ab. Wenn bei einem Schüler die Eltern alkoholabhängig sind und die Geschwister Drogen nehmen, hat er eben durchaus mal etwas anderes im Kopf als Bruchrechnen. Da kannst du machen, was du willst.
AM: Was wirst du aus deinem Fellow-Einsatz für die Zukunft mitnehmen?
Pauline: Abgesehen davon, dass ich einfacheres Kommunizieren gelernt habe, bin ich auch empathischer geworden. Du lernst beispielsweise, auf Dinge einzugehen, die du nebenbei mitkriegst, und darauf Rücksicht zu nehmen, ohne dass Andere merken, dass du Rücksicht nimmst. Oder, stures Verhalten mit einfachen Mechanismen aufzubrechen. Statt einen Schüler, der die Arbeit verweigert, zu fragen „Wieso arbeitest du nicht mit?“, frage ich besser: „Wie kann ich dich unterstützen, damit du künftig mitarbeitest?“ Dann ist er unter Zugzwang, sich etwas zu überlegen. Oft antwortet der Schüler dann nichts, sondern arbeitet das nächste Mal einfach mit, ohne Unterstützung.
In dem Job lernst du auch viel über perspektivische Personalführung, weil du mit einem riesigen Haufen Chaos zusammenarbeitest – und zwar sehr verschiedene Arten von Chaos, die jeder einzelne Schüler einbringt. Du versuchst beispielsweise, Schüler in Gruppenarbeiten so einzuteilen, dass sie sich gegenseitig mitziehen.
AM: Würdest du anderen Debattierern empfehlen, sich als Fellow zu bewerben?
Pauline: Ich halte das prinzipiell für einen sehr Debattanten-geeigneten Job. Zum einen, weil man darin geübt ist, in schwierigen Situationen vor großen, durchaus angriffslustigen Gruppen zu stehen. Zum anderen sind die meisten Debattanten sehr ehrgeizige Leute. Wenn man den Ehrgeiz darauf fixiert, etwas mit einer Gruppe „Ghettokinder“ zu erreichen, dann schafft man mit ihnen auch ganz erstaunliche Dinge. Und manchmal lernt man auch die Grenzen der eigenen Fähigkeiten kennen, was auch eine wertvolle Erfahrung ist. Dein eigener Erfolg hängt eben vom Erfolg der Schüler ab. Wenn du nur zwei Jahre an einer Schule bist, bist du mit mehr Engagement dabei, als es ein regulärer Lehrer sein kann.
Ich empfehle den Job bei Teach First allen Debattierenden, die Lust haben, mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten, und die nochmal was von der Welt sehen wollen, was ungleich dem akademischen Elfenbeinturm ist. Man muss bereit sein, sich auf sehr harte Hintergrundgeschichten einzulassen. Man muss lernen, gewisse Dinge, die man über die Lebenswelt der Kinder erfährt, vor Ort zu lassen und nicht mit nach Hause zu nehmen. Es ist aber einer der Berufe, bei denen man wirklich sagen kann: Ich mache etwas Sinnvolles.
AM: Liebe Pauline, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Julia Marquardt und Sarah Kempf.
mar/kem
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Pauline Leopold ist Deutsche Vizemeisterin 2011 und Süddeutsche Meisterin 2011. Sie war Siegerin der ZEIT DEBATTE Jena 2009 sowie des Gutenberg-Cups 2009 und 2010. Sie war Chefjurorin zahlreicher Turniere, darunter die ZEIT DEBATTE Hamburg 2012, die ZEIT DEBATTE Tübingen 2010 und die Mitteldeutsche Meisterschaft 2012. In der Amtszeit 2007/08 war sie Vorsitzende des Tübinger Debattierclubs Streitkultur e.V.. Sie studierte Rhetorik, Politik und Deutsch. Derzeit ist sie als Fellow für die Bildungsinitiative Teach First tätig.