Langsam nervt‘s – richtig so!
Am 29. Mai 2013 demonstrierten Josephine Witt und zwei französische FEMEN-Mitstreiterinnen mit entblößtem Oberkörper vor dem Justizpalast in Tunis gegen die Inhaftierung von Amina Sboui. Die drei Demonstrantinnen wurden verhaftet und zuerst zu einer Gefängnisstrafe von über vier Monaten verurteilt. Nach einem Monat Gefängnisaufenthalt wurde die Strafe im Berufungsverfahren zur Bewährung ausgesetzt. Die Aktion der FEMEN-Mitglieder scheint die proklamierten Ziele verfehlt zu haben: Amina Sboui sitzt weiter im Gefängnis und die beabsichtigte Öffentlichkeit für ihr Schicksal ist mit der Rückkehr von Josephine und den beiden anderen auch wieder verschwunden. Statt einer größeren Sensibilisierung über die Benachteiligung von Frauen entstand in Deutschland nur eine begonnene Debatte über die Angemessenheit der Protestform. – Nur? Der Beitrag möchte gerade diese begonnene Debatte nutzen und einen klaren Standpunkt zum Umgang mit Diskriminierung und dem Recht auf zivilen Ungehorsam vertreten.
Protest-Routine gegen Diskriminierung
Ich würde mich selbst niemals als politischen Aktivisten bezeichnen. Gleichzeitig wage ich aber trotzdem zu behaupten, dass ich und wir alle vorkommenden Ungerechtigkeiten wie Diskriminierung wahrnehmen. Der uns innewohnende Gerechtigkeitssinn hat uns hoffentlich als Schüler und mehr noch als Student dazu angestachelt, gegen wahrgenommene Ungerechtigkeiten aktiv zu werden. Erkannte ich anderen widerfahrende Ungerechtigkeit, startete bei mir eine Protest-Routine: Mut zusprechen, laut Unterstützung zeigen,… leise Auswege suchen. Dabei ist es völlig egal, ob es um Ungerechtigkeiten gegenüber einer Einzelperson geht oder ob größere Minderheiten unsere Unterstützung zu brauchen scheinen. Auch wenn ich die ganze Zeit nie Opfer solcher Ungerechtigkeiten war, fühlte ich mich doch als Betroffener und im Kampf herausgefordert.
Wie es sich anfühlt eine diskriminierte Fledermaus zu sein
Vor einigen Tagen war ich plötzlich Opfer. Mir wurde allein aufgrund des Namens meiner chronischen Erkrankung der Zugang zu einer Stelle verweigert. Es spielte keine Rolle, wie stark ich erkrankt bin, ob die Erkrankung jemals meine Arbeitsfähigkeit einschränkte oder inwieweit ich präventiv gegen Symptome aktiv bin. In dem Moment, in dem ich wahrheitsgemäß angab, unter dieser Krankheit zu leiden, spielten alle anderen Ergebnisse keine Rolle mehr. Die ganze amtsärztliche Untersuchung wurde daher für mich zu einer einzigen Erniedrigung: Das Vorgehen der Behörde insgesamt und der Amtsärztin in persona war unerträglich, weil der Staat das Risiko aus einer von mir nicht verschuldeten, nicht heilbaren Erkrankung allein auf mich als Einzelperson abwälzt, und es war diskriminierend, weil nach Nennung meiner Erkrankung keine Einzelfallprüfung mehr stattfand, die Benachteiligung also nicht Ergebnis einer Einzelfallabwägung, sondern einer Pauschalisierung war. Blanker Hohn, dass man mir das Recht einräumte, mich in einem Jahr erneut einer Untersuchung zu unterziehen.
Dessislava Kirova hat an dieser Stelle vor einigen Wochen dafür plädiert, dem Gegenüber in Auseinandersetzungen wie der Sexismus-Debatte mit mehr Mitgefühl zu begegnen. Wenn es um die Diskriminierung von anders aussehenden Menschen ging, wenn sich Homosexuelle darüber aufregten, kein Blut spenden zu dürfen, wenn Frauen im Bewerbungsgespräch über ihren Kinderwunsch lügen sollen, war ich mir sicher, eben genau durch mein Mitgefühl dazu angeregt zu sein, dies alles als Ungerechtigkeit wahrzunehmen. Ja, ich war überzeugt, mir vorstellen zu können, wie es sich anfühlt, diskriminiert zu werden! Genauso glaubte ich zu wissen, wie es sich anfühlt, nach einer eingehenden Untersuchung einen negativen Befund zu erhalten. Ich stellte mir vor, wie dann meine Protest-Routine aktiv werden würde. – Ich lag falsch. Aus meinem Mitgefühl heraus wusste ich über das Gefühl des Diskriminiertwerdens nichts. Seit der amtsärztlichen Untersuchung kenne ich mein Gefühl, diskriminiert zu werden. Es ist eine Kombination aus Wut und Ohnmacht zugleich. Wut und Ohnmacht über den Staat, der mich doch schützen soll, hier aber allein lässt. Ein Staat, der mich als Person anerkennen soll, aber nur in blinden Kategorien handelt. Aber eine Protest-Routine war da nicht.
Wie ein kleiner Tod
Jede erlebte Diskriminierung ist ein kleiner Tod der Würde. Jeden Tag, wenn man aufs Neue diskriminiert wird, und jedes Mal, wenn man über die erlebte Erniedrigung erneut berichten muss. Zorn und das Leugnen des eigenen Schicksals sind die ersten beiden Phasen im Sterbeprozess. In den fünf Phasen des von der Psychiaterin Kübler-Ross beschriebenen Sterbeprozesses sind Parallelen zu den Reaktionen tunesischer und islamischer Frauen auf die Aktion der Frauen von FEMEN zu erkennen. Sie beschreibt die Phase des Leugnens (Phase 1) als Zeitraum, in dem Tatsachen des Schicksals abgestritten und ignoriert, Verwechslungen angenommen werden. – „Nein, wir fühlen uns als Frauen in Tunesien nicht diskriminiert. In Deutschland mag man das ja nicht so erkennen, aber wir machen bei den Frauen-Rechten echte Fortschritte in Tunesien.“ – In der Phase des Zorns (Phase 2) richtet das Opfer seine Wut gegen andere Personen, die nicht betroffen sind. Der Zorn wird auf Personen aus dem Umfeld gerichtet, weil beim Sterben der wahre Gegner, der Tod, nicht greifbar ist. – „Durch die Aktion von FEMEN ist die Situation für Amina alles andere als besser geworden. Wir können uns viel besser ohne diese Provokationen durch Fremde für die Gleichberechtigung der Frauen in islamischen Staaten engagieren.“ – Tatsächlich ist Tunesien ein Land, in dem vor zwei Jahren Frauen und Männer gemeinsam für einen Neuanfang stritten und Frauen nun wieder unterdrückt werden. Amina Sboui wurde verhaftet, weil sie mit einem Blog für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einstand.
Als Menschen sind wir dem Tod hilflos ausgeliefert. – so hilflos wie Amina Sboui und andere Frauen ohne Öffentlichkeit? Der Zorn gegen Menschen aus dem Umfeld richtet sich nicht gegen diese persönlich. Er ist Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit. Er kann auch Angehörige befallen. Auch sie verspüren häufig ein Gefühl der Ohnmacht, auch sie können nichts tun. Hierin liegt aber ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Diskriminiertwerden und dem Sterben. Auch wenn man als Opfer einer Diskriminierung den Moment als kleinen Tod erlebt, als nur indirekt Betroffene sind wir meistens frei von diesem Ohnmachtsgefühl. Wir können etwas gegen die Diskriminierung von anderen tun. Meiner Ansicht nach folgt aus dem Möglichen sogar die Pflicht. Es verhält sich nicht anders als die Pflicht zur Ersten Hilfe bei körperlicher Versehrtheit eines anderen!
Der Defibrillator der Demokratie: Ziviler Ungehorsam
Wenn wir nun Formen von Ungerechtigkeit wahrnehmen, dann, so behaupte ich, sind es nicht nur unsere Emotionen, die uns diesen Missstand erkennen lassen. Im Gegenteil reichen Emotionen, reicht mitfühlen eben doch nicht immer aus. Ganz logisch-rational gibt es keine Gründe, schon gar nicht in der Art eines Werterelativismus, die eine Diskriminierung jeglicher Menschen und damit auch die Missachtung des Rechts einer Frau auf personale Selbstbestimmung in Tunesien nahe legen können. In einer Demokratie stehen uns Bürger verschiedene Formen offen, um unser Missfallen gegenüber staatlichen Institutionen auszudrücken. Vor Augen sind uns sicherlich Protestschreiben oder Demonstrationen. Josephine Witt und ihre beiden Mitstreiter von FEMEN haben auf diese Ungerechtigkeit offensichtlich anders reagiert und als Protestform das schärfste Mittel gewählt, das Bürger einer Demokratie wählen können: den zivilen Ungehorsam.
Kommentatoren, beispielsweise bei ZEIT Online, stellen die Aktion von FEMEN in Frage. Sie halten den Aktivistinnen vor, (Vorwurf 1) naiv gewesen zu sein, weil diese Reaktion des tunesischen Staates nicht vorhergesehen haben wollen. Man beschuldigt sie außerdem, (Vorwurf 2) die Wertevorstellungen in Tunesien nicht ausreichend respektiert zu haben. Beide Vorwürfe laufen aber ins Leere und zeigen viel mehr den unterschwelligen Erfolg der Aktion: Erstens gehört es zum Kern von zivilem Ungehorsam, zu irritieren und eine Reaktion des Staatsapparats in Kauf zu nehmen. Mögen Josephine Witt und ihre Mitstreiterinnen vielleicht wirklich nicht mit einer Gefängnisstrafe gerechnet haben, so haben sie doch gerade auf eine Reaktion wie beispielsweise eine medienwirksame Abschiebung gehofft. Zweitens respektiert die Ausübung von zivilem Ungehorsam den Staat gerade als Demokratie, indem einzelne Regeln bewusst überschritten werden, ohne den Staat grundsätzlich infrage zu stellen. – Drittens zeigen die Reaktionen, statt über das Anliegen der Protestierenden über die Form des Protestes zu diskutieren, dass der Protest auch für uns störend wirkt und genau dies ist das erste Ziel von zivilem Ungehorsam. Ziviler Ungehorsam soll uns auf die Nerven gehen, er muss daher anecken und (Werte-)Vorstellungen herausfordern. Wenn eine Ungerechtigkeit, wie sie Amina Sboui widerfahren ist, allein nicht reicht, um uns über unser Mitgefühl anzusprechen, müssen wir anders zum Nachdenken gebracht werden.
Die nächsten Phasen im Sterbeprozess sind das Verhandeln mit dem Schicksal und die Depression (Phase 3 und Phase 4). Schließlich folgt als letzte Phase die Akzeptanz des Schicksals. Damit es nicht so weit kommt, braucht es mutige Menschen, die bereit sind, wesentliche Dinge für andere zu riskieren. Diese mutigen Menschen wie Josephine Witt verdienen unseren Dank und unsere Unterstützung! Sie erweitern unser Mitgefühl und helfen Opfern aus ihrer Ohnmacht. Für das Recht aller Frauen auf personale Selbstbestimmung: Geht uns auf die Nerven!
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Der Autor: Jörn Hahn leitete zwei Jahre die Debatte Dortmund, gründete anschließend 2011 den DuEbattierclub und debattierte in gut fünfundzwanzig verschiedenen Städten. Obwohl er Mathematik und Philosophie studierte, konnte er trotzdem nie ein Turnier gewinnen.