Max Fritz: Atlas Last auf meinen Schultern oder mein erstes Mal als Chefjuror
Atlas ist ein armer Mann. Er trägt die ganze Last der Welt auf seinen Schultern. Um diese Verantwortung ist er wirklich nicht zu beneiden. Er trägt sie nun schon so lange, dass er zu einem Gebirge geworden ist. Alles überragend und massiv. Die Verantwortung für den Inhalt eines Debattierturniers liegt bei den Chefjuroren. Bei den Chefjuroren handelt es sich für gewöhnlich um die Titanen des Debattierens. Und plötzlich stand ich, ein einfacher Mann, vor diesem Gebirge und es sagte mir: jetzt musst du die Verantwortung tragen. Gott sei Dank musste ich, anders als Atlas, die Verantwortung nicht alleine tragen. Ein Titan half mir diese Aufgabe zu meisten. Ich konnte Tom-Michael Hesse vom Debattierclub Heidelberg Debating bereits bei unserem ersten Telefonat fragen, welche Art der Verantwortung auf mich zukommen wird und was wir in der Vorbereitung des Turniers beachten müssen.
Für die Chefjuroren beginnt das Turnier nicht erst um 9.15 Uhr am Samstagmorgen, sondern schon Wochen vorher. Nachdem mir kleinem Mann erklärt wurde, wie Atlas die Welt auf seinen Schultern trägt, ging es dann um die Themenfindung: Was hat es denn in den letzten Wochen und Monaten auf die Titelseiten der Zeitungen und in die 20-Uhr-Nachrichten geschafft? Worüber lässt sich dabei trefflich streiten? Sodann mussten wir uns fragen, ob die Themen, die wir gefunden haben, auch für beide Seiten genug hergeben. Vor eine besondere Herausforderung stellte uns dabei aber auch die strikte Anfängerreglung für das Turnier. Viele der Redner waren noch nie auf einem Turnier gewesen und haben bisher auch wenige Debatten gesehen. Welche Themen sind also für Anfänger geeignet? Verfolgt unsere Themensetzung einen didaktischen Zweck? Wie müssen wir die Themen formuliert sein, damit unerfahrene Redner sich nicht verrennen?So kam es, dass wir uns unter anderem zum Ziel gesetzt haben, Open Motions trainieren zu lassen. Aus dieser Überlegung heraus entschiedenen wir uns für das dritte Vorrundenthema: „Soll Bilbo zu Hause bleiben?“.
Danach ging es an die Planung der üblichen Redner- und Juroreneinführung. „Üblich“ beinhaltet immer eine gewisse Routine, sodass wir damit wohl kaum Arbeit haben sollten. Doch, halt! Auch hier galt es die besondere Situation der Anfänger zu berücksichtigen. Das fängt mit Kleinigkeiten an, wie „Darf ich während der Debatte auf die Toilette?“. Oder: „Die Regierung hat Raumrecht“. Aber auch die erfahrenen Juroren mussten dafür sensibilisiert werden, dass auf diesem Turnier Anfänger antreten und dass dementsprechend anders Feedback gegeben werden muss. So muss keinem Deutschen Meister mehr gesagt werden: „Adressat ist nicht die Gegenseite, sondern es sind die freien Redner“. Einem Anfänger mag dies aber noch nicht klar sein.
Und dann war es Samstag, 8:30 Uhr, kurz vor dem offiziellen Turnierbeginn. Vorher wurde es noch einmal hektisch im Tab-Raum, weil die Juroren für die erste Vorrunde noch gesetzt werden mussten und gleich mehrere Juroren zu spät kamen. Als alles vorbereitet ist, begrüßt die Präsidentin des Debattierclub Johannes Gutenberg Marina Freund die Teilnehmer. Und dann werden die Chefjuroren hereingebeten. Die Spannung steigt. Jetzt weiß ich, wie sich Atlas gefühlt hat, als er die Welt zum ersten Mal auf seinen Schultern getragen hat. Sie muss verdammt schwer gewesen sein! Mir schießen noch tausend Fragen durch den Kopf: „Sage ich auch alles Wichtige in der Regeleinführung? Ist das Thema der ersten Vorrunde gut?“. Dann ist es soweit. Plötzlich. Keine Zeit mehr zum Nachdenken. Das Turnier beginnt.
Es traten reine Anfänger-Teams aus Tübingen, Heidelberg, Marburg, Frankfurt, Wiesbaden, Kaiserslautern, Mainz und sogar zwei Schülerteams aus dem Taunus und von der IGS Bad Kreuznach an. Der jüngste Teilnehmer war gerade einmal 12 Jahre alt. Ein Alter, in dem ich noch nicht einmal wusste, dass es den Debattiersport und sogar Turniere gibt. Und dieser 12-Jährige stellt sich in meiner ersten Vorrunden-Debatte mit einer Selbstverständlichkeit ans Pult, dass ich nur staunen konnte. Er und ich waren auf unserem ersten Turnier.
Zwischen den Debatten haben Tom und ich uns dann zusammen mit den Tabmastern Sascha Schenkenberger und Clemens Fucker in den Tabraum zurückgezogen, um die Juroren zu setzen. Dabei mussten wir auf viele unterschiedliche Faktoren achten: Die Teilnehmer sollen natürlich gutes Feedback von den unterschiedlichsten Juroren bekommen. Zum anderen gibt es in OPD immer Differenzen in der Punktevergabe, die es auszugleichen gilt. Letztlich muss auch darauf geachtet werden, dass die Juroren möglichst nicht ihren eigenen Club jurieren, um Interessenkollisionen zu vermeiden. Sobald wir diese unterschiedlichen Aspekte unter einen Hut gebracht hatten, ging dann auch schon die nächste Vorrunde los.
Der nächste spannende Moment ist dann der Break. Die Redner, die den Break geschafft haben, sind für Tom und mich durch das Tab bereits klar. Doch welcher Juror wird breaken? Das ist für uns als Chefjuroren keine einfache Entscheidung, wenn so gute Juroren auf einem Turnier antreten, wie an diesem Samstag in Mainz. Neben Tom und mir haben dann Marion Seiche vom Debattierclub Goethes Faust in Frankfurt, Florian Umscheid von der Berlin Debating Union und Verena Gräf aus Wiesbaden als Präsidentin das Finalpanel komplettiert. Bei den Rednern haben als Top of the Tab das Team Streitkultur Atalante mit Selina Bernading, Lennard Lokstein und Nikos Bosse von der Streitkultur Tübingen und die Lokalmatadoren, das Team Mainz Anton mit Alisha Ricard, Johanna Nikodemus und Christian Strunck den Einzug ins Finale geschafft. Als Fraktionsfreie Redner haben punktgleich Bhavesh Agarwal von der EBS Wiesbaden, Martin Kühn von Kaiserslautern DebatING und Carsten Schotte aus dem Brüder Grimm Debattierclub Marburg das Finale vervollständigt.
In einem spannenden und guten Finale zum Thema „Sollen wir eine öffentlich-rechtliche Zeitung schaffen?“ setzte sich dann knapp das Team aus Tübingen in der Regierung durch. Beste Rednerin des Finales wurde Alisha Ricard aus Mainz. Der Titel des Top of the Tab nach den Vorrunden ging an Christian Strunck. Dabei wurde mir die Ehre zu Teil, die Sieger zu verkünden, was auch nochmal ein ganz besonderer Moment war.
Danach ist die Anspannung dann von mir abgefallen. Die Welt ruht nun nicht mehr auf Toms und meinen Schultern. Wir haben gute Debatten gesehen und die Region muss sich definitiv keine Sorgen um ihren Nachwuchs machen. Atlas habe ich nun das erste Mal vertreten. Es war mir eine Ehre. Aber ich beneide Atlas immer noch nicht, diese Verantwortung tagtäglich tragen zu müssen. Und trotzdem hoffe ich, dass auch ich irgendwann zu einem massiven und verlässlichen Gebirge werden kann. Genau wie Atlas.
Text: Max Fritz/fpu