Auf der Suche nach Gesprächsfähigkeit: Eine Reise in die Seele der Schülerdebatte „Jugend debattiert“
Ich war gewappnet für meine erste Reise ins Schülerdebattieren, hatte mir Reiseführer durchgelesen und schon vorher mit Einheimischen gesprochen. Aber wie so häufig beim ersten Kontakt mit einer fremden Kultur: ich war trotzdem überrascht. Und begeistert: begeistert von Mittelstufenschülern, die bereits in der achten oder neunten Klasse Kommunikationskompetenzen haben, die wir Erwachsenen manchmal wünschen. Und begeistert von der Analysefähigkeit und rhetorischen Kompetenz der Oberstufenschüler, die manch einer erst nach vielen Jahren Debattieren an Universitäten erreicht. Doch – der Reihe nach.
Beginnen wir mit der Projektstruktur. Herzstück von Jugend debattiert sind Debatteneinheiten, die die Schüler entweder im Unterricht oder in Arbeitsgemeinschaften oder Oberstufenkursen belegen. Dort bieten Lehrer, die vorher selbst durch Trainer von Jugend debattiert geschult wurden, Übungseinheiten zum Debattieren an und die Schüler erlernen das Handwerkszeug der Debatte. Wenn sie das erlernt haben, können sie in zwei Altersstufen (Sekundarstufe 1 und Sekundarstufe 2) am Wettbewerb von Jugend debattiert teilnehmen, der jedes Jahr im Frühjahr beginnt und über Schul-, Regional- und Landesebene bis zum Bundesfinale in Berlin führt. Die Sieger eines jeden Wettbewerbs gewinnen zur Vorbereitung auf die nächste Ebene neue Trainingseinheiten, die von erfahreneren Trainern von Jugend debattiert durchgeführt werden.
Die Schüler erhalten die Themen 10 Tage vor dem Turnier, sodass sie sich inhaltlich vorbereiten können. Pro Turnier gibt es eine Hin- und eine Rückrunde (also zwei Debatten zu unterschiedlichen Themen) und ein Finale. Die Position sowie den jeweiligen Teampartner der Debatte (es debattieren immer zwei pro Seite) werden am Abend bzw. eine Stunde vorher zugelost.
Eine Debatte beginnt zunächst mit zweiminütigen Eingangsstatements, in denen abwechselnd die Pro- und Contra-Redner ihre Position darlegen. Der erste Redner der Pro-Seite übernimmt dabei die Aufgabe, eine konkrete Maßnahme vorzustellen und gegebenenfalls zu definieren; er stellt sozusagen den Antrag. An die Eingangsstatements schließt sich die Freie Aussprache an, in der jeder Redner Fragen stellen und weitere Argumente einbringen kann. Die freie Aussprache ist völlig unreguliert, funktioniert aber durch die an sie in der Jurierung gestellten Anforderungen erstaunlich diszipliniert. Nach zwölf Minuten beendet der „Zeitwächter“ mit einem Glockenklingeln die Aussprache und die Redner dürfen jeder nochmal ein einminütiges Schlussstatement halten, um die Debatte aus ihrer Sicht zusammenzufassen, ein Fazit zu ziehen und konsensuale und strittige Punkte der Diskussion zu filtern.
Entscheidend für das Funktionieren dieser Debatte ist die Jurierung. Sie legt vier Kriterien an, jeder der drei Juroren darf dabei bis zu fünf Punkte pro Kriterium vergeben. Das erste Kriterium, „Sachkenntnis“ (Wie gut weiß der Redner, worum es geht?), entspricht weitestgehend dem entsprechenden Kriterium der Offenen Parlamentarischen Debatte, genauso wie „Überzeugungskraft“ (Wie gut begründet er, was er sagt?), was der Urteilskraft in OPD nahekommt. Als drittes Kriterium fasst Ausdrucksfähigkeit (Wie gut sagt er, was er meint?) die sprachlichen Komponenten und das Auftreten der Redner zusammen. Das entscheidende vierte Kriterium aber ist die Gesprächsfähigkeit (Wie gut geht er auf die anderen ein?). Sie verlangt von den Rednern, dass sie die Debatte als Gesamtheit betrachten, die stellvertretend für den Zuschauer geführt wird. Deshalb ist es wichtig, dass die vier Debattanten gemeinsam Konsens und Dissens herausarbeiten und auf die andere Seite und ihre Punkte konstruktiv und werbend eingehen.
Drei Dinge unterscheiden also das Format von Jugend debattiert im Wesentlichen von den Formaten im studentischen Debattieren: die Vorbereitungszeit, die Kürze der Reden und der Gesprächscharakter – und alle drei finden am Ende ihre Motivation in den spezifischen Anforderungen, die an das Debattieren im Unterricht gestellt werden.
Zunächst wird ein stärkerer Schwerpunkt auf die inhaltliche Vorbereitung gelegt, da viele Schüler noch nicht über ein breites Allgemeinwissen und die nötige Institutionenkenntnis verfügen. Durch die stärkere Inhaltliche Vorbereitung sollen die Schüler aber auch lernen, Informationen aus verschiedenen Quellen zu gewichten und die entscheidenden Sachargumente herauszuarbeiten.
Zum Zweiten sind die Reden an sich kürzer. Damit wird es den Schülern leichter gemacht, einen Einstieg in die freie Rede zu finden. Sie werden aber gleichzeitig auch mehr gefordert, Argumente zu gewichten, zu konzentrieren und zusammenzufassen – sprich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, das die Streitfrage entscheidet.
Zum Dritten trainiert Jugend debattiert stärker die Gesprächskometenz, sprich, das Zuhören, Eingehen und Werben in einer Auseinandersetzung. Diese Kompetenz, die im studentischen Debattieren an verschiedenen anderen Stellen, zum Beispiel in der Erwiderung oder den Zwischenreden nach Freien Reden gefordert wird, bereitet die Schüler mehr auf reale Redesituationen vor, wie sie in Teamgesprächen, Versammlungen, Konferenzen oder auch im Unterricht vorkommen. Dazu stehen Fragen im Vordergrund wie: Wie gehe ich auf meinen Gegenüber und seine Meinung ein? Wie wirke ich in Diskussionen überzeugend und konstruktiv? Wie kann ich mit meinen Punkten in der Diskussion zu Wort kommen, ohne den Diskussionsstand zu ignorieren? Diese Anforderungen begründen auch, warum die freie Aussprache über 12 Minuten ohne eingreifenden Präsidenten oder weitere Regeln auskommt: Wer zu lange redet, andere häufig unterbricht oder Teilnehmer ignoriert, wirkt nicht souverän und schadet seinen eigenen Standpunkten.
„Ist das noch eine Debatte?“ mag ein studentischer Redner sich fragen, wenn er zum ersten Mal eine Debatte von Jugend debattiert anschaut. „Was ist denn das für ein aggressiver Ton“ werden viele Schüler denken bei ihrem ersten Besuch in einem studentischen Debattierclub. Was wie ein unüberwindbarer Unterschied aussieht, reflektiert am Ende verschiedene Debattenkompetenzen und verschiedene Fähigkeiten, die ein Redner, Debattant oder Diskussionsteilnehmer in den verschiedenen Situationen der öffentlichen Rede braucht.
Ich selbst war begeistert davon, zu sehen, wie gut die kommunikativen und die rhetorischen Fähigkeiten der Schüler, vor allem schon der jüngeren Schüler, sind. Jugend debattiert scheint durch seine inhaltliche Ausrichtung gut auf das Bedürfnis der Schüler ausgerichtet und fördert zunächst grundlegende kommunikative Fähigkeiten, die den Schülern auch im Unterricht und Alltag nützen – und es führt sie gleichzeitig heran an die Welt der Debatte, der argumentativen Auseinandersetzung und, auch das bleibt nicht außen vor, der Rhetorik.
Nicht jeder Schüler wird sich nach seinen Erfahrungen bei Jugend debattiert für das studentische Debattieren mit seinem manchmal doch etwas konfrontativeren Umgangston gleich zu Hause fühlen. Genauso wenig werden sich die Studenten heimisch fühlen, die mit den Anforderungen von Jugend debattiert konfrontiert werden. Aber die Schüler sind in jedem Fall bestens vorbereitet für die Anforderungen, die das studentische Debattieren an sie stellt – und sie können gleichzeitig noch viel lernen. Bleibt nur zu hoffen, dass durch ein Zusammenrücken beider Welten in Zukunft noch mehr Schüler auch ihren Weg in einen studentischen Club finden und damit von den Vorteilen und Kompetenzgewinnen beider Welten profitieren.
Philipp Stiel
Dieser Artikel erschien in der Juli-Ausgabe des Newsletters „Debattenkultur“ des Verbands der Debattierclubs an Hochschulen. Dieser widmet sich dieses Mal dem Thema „Debatte im Klassenraum“. Anlässlich der neu geschlossenen Kooperation des Verbands mit Jugend debattiert, dem Debattenwettbewerb an Schulen, beleuchten Schüler, Lehrer und Jugend-debattiert-Alumni das Schülerdebattieren. Die Autoren des Newsletters vermitteln dabei einen Eindruck von den besonderen Herausforderungen der Methode Debatte im Unterricht und analysieren die Unterschiede der Debattenformate an Schulen und Hochschulen.
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