Käsebuffet, eine junge Szene und eine “Reinversetze“-Debatte – Andreas Lazar über das Paris IV
Paris ist sehr, sehr schön. Und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zentrum der alten Kulturnation Frankreich, so dass man keinesfalls an einem kurzen Wochenende alle Eindrücke in sich aufnehmen kann.
Wie es dennoch gehen kann, haben die Organisatoren des Paris IV 2011 um Louisa Leila Zhang am ersten Aprilwochenende gezeigt. Sie boten den gut 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus ganz Europa französische Gastfreundschaft und Gaumenfreuden, beeindruckende Hochtechnologie und Feierkunst und nicht zuletzt eine große Stadtführung in weniger als 45 Stunden. Die Rednerinnen und Redner, vom WM-Finalisten John Ashbourne von der London School of Economics bis zu Anfängerinnen wie Margaux Serey von der Universität Paris V – René Descartes, dankten es mit bester Laune, unstillbarer Partylust und tollen Debatten.
Die Vorrunden fingen am Freitagabend in den Räumen der Telécom ParisTech im 13. Arrondissement an. Die Chefjuroren, Ben Woolgar aus Oxford und Maja Cimerman aus Ljubljana, hatten durchweg frische und herausfordernde Themen vorbereitet, beginnend mit: „This house would ban public sector strikes in times of high government debt“. Sven Moritz Hein und ich betonten aus der Eröffnenden Regierung vor allem die Gefahren der Überschuldung und warum dieser Notstand Einschränkungen des Streikrechts rechtfertige, um die weitere Funktionsfähigkeit des Staates zu gewährleisten und so die Schulden abbauen zu können. Nachdem wir diese Schuldigkeit getan hatten, gab es noch vor der zweiten Vorrunde am selben Abend ein üppiges Wein- und Käsebuffet, das auch den asketischsten Debattierpuristen zu Luxusturnieren bekehrt hätte. Dank durch leidvolle Erfahrungen erworbene harte Disziplin konnten wir uns aber im Durchschnitt auf ein Glas beschränken und so in der zweiten Runde mit der Motion „This house believes that France should open its borders to any migrant from one of its former colonies“ aus der Eröffnenden Opposition mit einigen herkömmlichen und ein paar cleveren Argumenten gegen Immigration sowie einer Kritik der „Erbschuld“ die Debatte gewinnen. Während sich die Juroren berieten, unterhielten wir uns mit französischen Debattiererinnen und Debattierern wie Mélissa Large, die uns sagte, dass ihre Szene noch sehr jung ist und durch Turniere wie das Paris IV oder das Sciences Po IV im Mai nicht nur Expertise zu sich holen, sondern auch Kontakte knüpfen möchte. Dazu war nicht nur auf der anschließenden Party mit viel Freibier Gelegenheit, sondern auch bei den Crashanbietern, bei denen aufgrund einer Panne zum Teil bis zu neun Leute in einem Studentenzimmer schlafen sollten.
Vielleicht nach dem Vorbild von Ölsardinen wurde dieses Problem gelöst, und so konnte es am nächsten Morgen nach Croissants und Kaffee zum Thema „This house supports the establishment of ‚Harvey Milk Schools‘ in Europe“ vollzählig weitergehen, ohne erst Redner unter allerdings pittoresken Seinebrücken auflesen zu müssen. Die Harvey-Milk-Schule in New York City ist eine vor allem für lesbische, schwule, bi- und transsexuelle Schüler offene Einrichtung, die diesen Jungen und Mädchen eine tolerante, mobbingfreie Umgebung bieten will. Noch vor dem Mittagessen gab es die vierte Motion „This house would use partition to solve civil wars in divided societies“, und danach die letzte Vorrunde zum Thema „This house believes that it is immoral to donate to animal charities whilst humans are dying of poverty“.
Es ist ein nur zu oft wahres Klischee, dass besonders ehrgeizige Rednerinnen und Redner Bücher und Magazine vor allem daraufhin lesen, welche Debattierargumente, -strategien und -tricks sich aus ihnen entnehmen lassen. Ein sehr häufiger Nutznießer und gleichzeitig bemitleidenswertes Opfer ist der australische utilitaristische Philosoph Peter Singer, dessen Standardwerk „Practical Ethics“ sich neben dem „Economist“ wohl auf jedem zweiten Debattierernachttisch findet. Allerdings ist das Buch von großer Klarheit und voller prägnanter Beispiele, so dass es in Debatten wie letzterer hilft, sich auch noch aus der Schließenden Opposition durch das Dickicht der verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Moralbegründungen der Regierung zu schlagen und mit einem sauberen Plädoyer für Tierrechte und die Verantwortung des Stärkeren unter den strengen Augen des Weltmeisters Chris Croke (WUDC 2010) den Raum zu gewinnen. Nebenbei konnte ich endlich meinen aus unerfindlichen Gründen lange gehegten Wunsch erfüllen, in einer Rede ein Zitat aus „Moby Dick“ unterzubringen: „‚Forehead to forehead I meet thee, this third time, Moby Dick!‘ – Unfortunately, unlike the white whale, most animals can’t help themselves against being hunted, so we have to …“
Bei 56 Teams und nur einem Halbfinale und gleichzeitig einem ESL-Finale mussten fast alle Teilnehmer bis zur letzten Vorrunde bangen, ob sie genug Punkte gesammelt hatten, um den Break zu schaffen. Am Ende durften aus dem VDCH Mainz und Berlin jubeln und zuletzt auch wir. Das ESL-Finale bestritten Berlin Pariser Platz (Juliane Mendelsohn und Bastian Laubner) in der Eröffnenden Regierung, Berlin Pariser Kommune (Dessislava Kirova und Kai Dittmann) in der Eröffnenden Opposition, Assas I’m With Stupid (Feng Cai und Auxonne De Viel Castel) in der Schließenden Regierung und wir in der Schließenden Opposition zum Thema „As the editor of Jyllands-Posten in September 2005, this house would not have published the ‚Mohammed Cartoons'“.
Diese „Reinversetze“-Debatten werden in letzter Zeit immer beliebter. So waren etwa alle Motions des Leeds IV Mitte März von dieser Art, zum Beispiel „You are an Atheist. This house would never commit an act of blasphemy“. Im Gegensatz zu „herkömmlichen“ Debatten, bei denen „This house“ als verantwortlicher, quasistaatlicher Akteur vernünftig und moralisch handeln und möglichst viele gesellschaftliche Gruppen einbeziehen sollte, ändert sich das Kalkül, wenn man zum Beispiel ein Elternteil ist, der sein Kind nicht Kinderstar werden lassen würde, oder eben der Chefredakteur einer dänischen Zeitung. Als solcher kann man durchaus selbstsüchtig und polarisierend handeln, wenn man dadurch etwa Ruhm und Geld für sich erlangt, weil man sein Blatt weltweit bekannt gemacht hat.
Soweit die Theorie, in der Praxis fiel uns dieser Ansatz hinter einer sehr guten ersten Berliner Hälfte noch recht schwer (die allerdings auch eher „This house would not have published the ‚Mohammed Cartoons'“ debattierte), und am Ende gewannen Juliane und Bastian verdient. Derweil debattierten Marietta Gädeke und Marcus Ewald aus Mainz im Halbfinale des Hauptbreaks „This house believes that Israel should abolish conscription“, schafften es aber leider nicht ins Finale zum Thema „This house believes that a woman who wears high heels is no more free than one who wears the burqa“, das Dublin, ein britisch-irisches Mixed-Team, Utrecht und die London School of Economics in einem schönen Hörsaal der Sciences-Po-Universität bestritten. Am Ende gewannen Png Zhiheng und John Ashbourne von der LSE das Turnier aus der Schließenden Opposition.
Wir taten uns bis zur Verkündung der Gewinner an Häppchen, Wein, Bier und Cocktails gütlich und feierten danach zum Teil noch bis in den Morgen ausgelassen in der Stadt der Lichter. Auch wenn der Kater am nächsten Tag eher an einen ausgewachsenen Tiger erinnerte: Dieses tolle Turnier in einer der großartigsten Städte der Welt sollte ein fester Termin im Kalender jeder Debattiererin und jedes Debattierers sein!
Andreas Lazar / apf